: Aufbruch im Waldhotel
Hansi Flicks erste Länderspiele als Bundestrainer stehen an: Er möchte viel bewegen. Muss er auch
Direkt im weitläufigen Sport- und Erholungsgebiet Waldau von Stuttgart liegt das aktuelle Domizil der deutschen Nationalmannschaft. Über einige kräftige Anstiege geht es aus dem Talkessel hoch in den Stadtteil Degerloch. Mitten zwischen Eiswelt und Kletteranlage, Fußballplätzen und Biergärten hat Hansi Flick am Fuße des Fernsehturms seit Sonntag seine Auswahl für die ersten Länderspiele unter seiner Regie im Waldhotel zusammengezogen. Auch der neue Bundestrainer will schließlich raus aus der Talsohle: „Deutschland ist Erfolg gewöhnt, und den Anspruch haben mein Team und ich auch.“
Mit dem erst elften Amtsinhaber in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sind immense Erwartungen verknüpft, die nicht nur der 56-Jährige selbst schürt, in dem er „erfolgreichen, schönen, modernen und aktiven Fußball“ verspricht. Der am Montag bei kühlem Regenwetter in der Heimstätte der Stuttgarter Kickers mit einer ersten Übungseinheit beginnende Flick soll zudem die verlorene Bindungskraft der Nationalmannschaft zurückbringen. Dass der Verband nach der Flick-Premiere, dem WM-Qualifikationsspiel in St. Gallen gegen Liechtenstein (Donnerstag 20.45 Uhr, RTL), für das Heimspiel in Stuttgart gegen Armenien (Sonntag 20.45 Uhr, RTL) großzügig Freikarten ausgibt, sagt eigentlich alles.
Es ist viel verloren gegangen, seit Vorgänger Joachim Löw ein WM-Desaster 2018 zu verantworten hatte, aus dem erst keine und dann viel zu zögerlich die Konsequenzen gezogen worden sind. Die Chance, bei der EM in diesem Sommer mit einem Sieg im Achtelfinale gegen England wieder Begeisterung zu wecken, wurde leichtfertig verpasst. „Bei den Turnieren haben wir das Potenzial nicht auf den Platz gebracht. Ich weiß aber, was für Potenzial wir haben“, sagte Kapitän Manuel Neuer, der empfahl, sich am Europameister Italien zu orientieren. Der 35-Jährige räumte ein, dass „ein bisschen was gutzumachen“ sei. Seine Vorgabe für den Neustart: „Eine Einheit auf dem Platz sein, die immer aktiv und siegeswillig ist.“
So ähnlich äußerte sich auch Flick, der mit wenigen pragmatischen Handgriffen den taumelnden FC Bayern zu Titeln führte. Sein Credo an die Adresse der Akteure: „Zeigt, was in euch steckt.“ Er will eine Mannschaft sehen, „die lebt, sich hilft, sich wertschätzt“. Die Distanz mit der Coronakrise tat ein Übriges, dass die Nationalmannschaft als das oft beschworene „letzte Lagerfeuer“ der Gesellschaft ausgedient hat. DFB-Interimspräsident und Multifunktionär Peter Peters hat dem Löw-Erben noch einen ganz anderen Rucksack aufgeschnallt: „Der Verband braucht seine Ehre wieder zurück. Deswegen ist die Nationalmannschaft für uns wichtig.“ Soll heißen: Der neue Bundestrainer ist eben nicht nur als Fußballlehrer gefragt.
So bekommt Flicks Tun eine neue Dimension. Mag er als Bayern-Coach mit einer Attacke auf Coronadauermahner Lauterbach vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen haben, will er künftig bei solchen Themen „besser aufpassen“. Ob bereits die Spiele gegen Liechtenstein, Armenien und Island (8. September) eine Aufbruchstimmung im Land schüren kann, scheint fraglich. Frank Hellmann
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