: „Hier bin ich zu Hause“
Hikmet Bey
Statistisch existiert er gar nicht. Dabei lebt dieser Mann schon seit 15 Jahren in Deutschland – allerdings illegal. Geboren wurde er in einem Dorf in der Nähe der bulgarischen Stadt Rasgrad. Der Türke aus Bulgarien managt sein Leben zwischen Untergrund und Öffentlichkeit ganz gut. Dabei ist er nicht allein, mindestens 100.000 Menschen, so schätzt der Senat, leben illegal in Berlin. Eigentlich wäre der 36-Jährige hier ganz zufrieden – wenn nur endlich die große Liebe käme. Denn nur eine Heirat kann aus dem Schattenmann noch einen ordentlichen Bürger machen. Wo der Unerwünschte lebt und arbeitet, kann er uns natürlich nicht verraten.
INTERVIEW CEM SEY und ADRIENNE WOLTERSDORF
taz: Was war wichtig für Sie auf dem Weg zu unserem Treffen?
Aufzupassen, unauffällig angezogen zu sein, nicht aufzufallen und auf keinen Fall schwarz U-Bahn fahren.
Wir nennen Sie mal Hikmet Bey, einverstanden? Sie leben seit 15 Jahren in Berlin, allerdings illegal. Wie offen gehen Sie damit um?
Hikmet Bey: In Berlin ist das so normal, dass sich keiner mehr wirklich wundert. Auf der Arbeit lasse ich die deutschen Kollegen im Glauben, dass ich hier legal lebe, verheiratet bin und Kinder habe. Ich halte Abstand, aber meine Freunde wissen Bescheid. Nur den Frauen sage ich nicht, dass ich illegal bin.
Wie kam es, dass Sie ihre Heimat Bulgarien verließen und nach Deutschland kamen?
Damals hatten wir noch Probleme mit den Kommunisten und viele bulgarische Türken flüchteten in die Türkei. Mein Onkel, der bereits als Gastarbeiter aus der Türkei nach Berlin gegangen war, sagte mir, komm besser nach Deutschland. Ich bin dann nach Nürnberg gegangen und habe dort einen Asylantrag gestellt.
Der wurde offenbar nicht bewilligt.
Nein, als Bulgarien dann demokratisch wurde, lehnten sie meinen Asylantrag ab. Ich hatte mich aber schon an Deutschland gewöhnt. Ich wollte nicht mehr zurück nach Bulgarien, so bin ich zum Illegalen geworden.
Welches Versprechen bedeutete Deutschland für sie?
Die bulgarische Jugend ist fasziniert vom Westen. Autos, Filme, ja sogar die Schokolade. Wir wollen zum Westen gehören. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehe und wie ich dort lebe. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr in Bulgarien bleiben wollte.
Als Sie nach dem gescheiterten Asylantrag wieder einreisten, gingen sie nach Berlin. Wie war es, das erste Mal als Illegaler?
Ich wusste gar nicht, was ich tun soll. Schlafen und Sport machen. Sonst nichts. Ich hab einfach gewartet.
Auf was?
Ich weiß nicht mehr, es war schrecklich. Ich konnte nichts sagen, weil ich kein Deutsch sprach. Aber Türken gibt es ja zum Glück überall, ich lernte eben die kennen.
Ihre Familie sind Türken, die immer in Bulgarien lebten, weil es zum Osmanischen Reich gehörte. Wie war Ihr Leben, als Sie noch zu Hause waren?
Ich ging 13 Jahre zur Schule, man kann sagen, dass ich das Abitur gemacht habe. Nach Schule und Armee bin ich weggegangen, ich hatte dort nichts. Am Anfang wollte ich nur zwei, drei Jahre arbeiten, ein Auto kaufen und nach Bulgarien zurückkehren um dann Biochemiker zu werden.
Wieso Biochemiker?
Wahrscheinlich weil in Bulgarien viele Mädchen dieses Fach studieren.
Bereuen Sie manchmal, die Heimat verlassen zu haben?
Ich habe ja versucht, in Bulgarien ein Leben aufzubauen, aber die Gesetze dort und die Mafia lassen es nicht zu. Die Menschen dort sind ganz anders als hier, dort kannst du nichts richtig anfassen und machen.
Was hat nicht geklappt?
Ich investierte das Geld, dass ich in Nürnberg gespart hatte, in eine kleine Firma, aber ich habe alles verloren. Bulgarien hatte sich in dieser Zeit verändert. Ich war schon zu fremd geworden.
Bulgarien könnte in zwei Jahren EU-Mitglied werden – und Sie werden weiter als Illegaler hier leben müssen. Ist das nicht verrückt?
Ich fühle mich wohl in Deutschland, ich lebe schon seit 15 Jahren in Berlin, ich bin hier zu Hause. Ich wüsste gar nicht, was ich in Bulgarien anfangen soll. Eine Woche halte ich es da aus, aber dann wird mir langweilig. Außer meiner Familie kenne ich da niemanden mehr, alle sind ja weg.
Was sagt Ihre Familie dazu, dass Sie als Illegaler in der Fremde leben?
Meine Mutter ist nicht viel herumgekommen, sie versteht nicht einmal, was es heißt, illegal zu sein.
Offiziell durften Sie nicht mehr nach Deutschland einreisen. Wie kamen Sie trotzdem über die Grenze?
Damals konnte man mit dem bulgarischen Pass nach Tschechien reisen. Dort ist es nicht schwer, Schleuser zu finden, da sie selbst in die Dörfer kommen und ihre Dienste anbieten. Das erste Mal hat es mich 500 Mark gekostet.
Wie kommt man über die Grenze?
Mit dem Auto bis zur Grenze. Dann sind wir in der Nacht zu Fuß rübergelaufen. Auf der deutschen Seite wartet schon jemand auf dich. Es ist ein beschissenes Gefühl, nachts zu laufen. Du hast Angst, weil die Grenze die letzte Hürde ist und du Schiss hast, erwischt zu werden. Du kennst die Schleuser nicht, aber du musst ihnen vertrauen. Einmal musste ich über die Oder schwimmen.Wenn du es über die Grenze schaffst, fahren sie dich auch bis nach Berlin.
Wie oft haben Sie das gemacht?
Schon zehnmal, hin und her. Zweimal bin ich erwischt worden.
Was passierte da?
Weiter nichts. Falls mich ein Polizist nach meinen Papieren fragt, sage ich, dass ich schwarz hier bin. Dann bist du mit der ersten Maschine wieder in Bulgarien, und alles fängt von vorne an.
Wie, so unspektakulär ist das?
Ich hatte mal in Tschechien einen Mann kennengelernt, der mir anbot, mich mitzunehmen, wenn ich seine Reisekosten nach Dresden übernehme. Wir sind tatsächlich über die Grenze gekommen, haben uns umgezogen und alles. Doch dann waren wir zu faul und warteten im ersten Dorf auf den Zug nach Dresden. Im Bahnhof haben sie uns erwischt. Die Polizei hatte unsere Spuren entdeckt. Sie fragten uns, ob wir denn blöd seien und warum wir denn nicht einfach 20 Kilometer weitergelaufen wären.
Manche besorgen sich Papiere.
Ja, danach habe ich mir auch für 1.800 Mark einen gefälschten Pass mit Visum gekauft, das ging damals sehr einfach, die Polizisten haben die Pässe selbst gefälscht.
Die Polizei ist also Teil des Systems?
Ja, sie ist oft korrupt, das ist o.k. so.
Und wie reisen Sie aus?
Ich gehe erst zum bulgarischen Konsulat und lasse mir ein neues Reisedokument geben, dass dann nur für die Rückkehr nach Bulgarien gilt. Ich erzähle, dass ich ein Visum hatte, aber den Pass verloren habe. Die deutschen Grenzbeamten kontrollieren, ob du etwas Kriminelles getan hast, und du lügst ihnen was vor. Zum Beispiel, dass ich ein Auto kaufen wollte, aber mein Geld verloren habe oder so. Dann lassen sie dich gehen, machen aber einen Vermerk, dass du nicht mehr einreisen darfst.
In Berlin leben Sie ein halbwegs normales Leben. Wie sieht das aus?
Erst habe ich Obst und Gemüse verkauft, später fand ich Arbeit in diesem Betrieb. Dort bin ich seit acht Jahren nachts im Lager. Mein Chef weiß nicht, dass ich illegal bin. Erst wollte er mich nicht, aber ich habe ihm erzählt, ich hätte meine Papiere in Ordnung gebracht. Ich hätte eine reguläre Aufenthaltserlaubnis.
Wie bekommen Sie ihr Gehalt, Sie haben doch kein Bankkonto?
Der Chef zahlt mir mein Gehalt jeden Monat bar auf die Hand. Das machen alle so. In dem Betrieb, wo ich arbeite, gibt es bestimmt 15 Illegale.
Weiß die Polizei nicht, wo die Illegalen arbeiten?
Es gab schon Razzien, sie haben auch einige erwischt. Aber wir bekommen meist einige Tage zuvor eine Warnung.
Viele Arbeitgeber nutzen die Lage der Illegalen gern aus, bezahlen sie nicht oder schlecht.
Mir geht es ganz gut, aber viele Illegale haben wirklich große Probleme, weil die Chefs, zum Beispiel auf dem Bau oft am Ende nicht bezahlen. Oder Vermieter bringen mehrere Illegale in einer Wohnung unter und kassieren dann von allen Wuchermieten.
Was ist, wenn Sie krank werden?
Gott sei Dank bin ich noch gesund. Natürlich habe ich keine Krankenversicherung, wenn ich zum Arzt muss, zahle ich halt bar. Als mein Mitbewohner Tbc hatte, hat mich ein Arzt gratis untersucht. Ich musste lediglich versprechen, dass ich nach Bulgarien zurückkehre, falls ich auch Tbc hätte. Selbst das Gesundheitsamt wusste, dass ich illegal bin, aber sie haben mich nicht angezeigt.
Sie fahren zum Beispiel nie schwarz U-Bahn. Welche Tarnstrategien haben Sie sich außerdem ausgedacht?
Als ich Gemüse verkaufte, gab es mal eine Razzia. Alle sind weggelaufen, nur ich ging zu den Polizisten und habe neugierig gefragt, was denn los sei. Da haben sie mich zur Seite geschoben und gesagt, ich solle mich nicht einmischen. Das klappt aber leider nicht immer.
Würden Sie so leben, wenn Sie hier legal sein dürften?
Bestimmt nicht. Ich würde auf keinen Fall mehr nachts arbeiten.
Von was träumen Sie?
Ich würde mich gern selbstständig machen, nie wieder nachts arbeiten. Ich würde bestimmt viel besser Deutsch lernen, eine Familie haben. Im Moment lebe ich nur in den Tag hinein. Ich pflege meine Wohnung nicht richtig, weil ich nicht weiß, was morgen mit mir passiert. Diese Situation erdrückt mich.
Gibt es keinen Ausweg?
Nichts, nur heiraten.
Genau das haben Sie nun vor. Gibt es noch Schwierigkeiten?
Eigentlich nicht, alle notwendigen Papiere sind schon da, bis auf eines. Ein Beamter in Bulgarien stellt sich quer. Deshalb muss ich jetzt wieder ausreisen und herauskriegen, wo das Problem liegt. Wahrscheinlich erwartet er, bestochen zu werden.
Es kann aber sein, dass Ihnen die Rückkehr nach Berlin nicht gelingt?
Das kann passieren. Ich habe aber keine andere Wahl, und bisher habe ich es immer geschafft.
Wie haben Sie ihre zukünftige Ehefrau kennengelernt?
Über einen gemeinsamen Freund. Wir kennen uns aber schon lange und hatten mal ein Verhältnis. Vor ein paar Monaten saßen wir drei mal zusammen, und ich sagte mal wieder, dass ich es satt habe, illegal zu sein. Da bot sie mir die Ehe selber an. Ich hätte sie eigentlich viel früher heiraten können.
Warum haben Sie es nicht getan?
Ich warte wohl auf die richtige Liebe, ich hoffe, die kommt noch. Das ist nicht so einfach in meiner Situation. Jetzt heirate ich nur für die Papiere.
Wie werden Sie ihr offizielles Eheleben arrangieren?
Unser Verhältnis ist zwar vorbei, aber wir küssen uns noch gern. Ich werde bei ihr gemeldet sein, wohne aber getrennt. Ich weiß ja, wie ihre Wohnung aussieht. Wir sehen dann, wie es geht.
Gehören Sie zu dieser Stadt?
Ja. Ich bin ein Berliner. Ich fühle mich nicht besonders ausgeschlossen. Klar, hängt das natürlich von meiner Stimmung ab, aber ich lebe genau so wie alle anderen auch.
Dass heißt, jeder hat so seine Sorgen, und Sie müssen eben immer ein bisschen wachsamer sein als andere?
Die Stadt ist bunt, ich habe hier Freunde und Arbeit. Ich habe mich schon zweimal verliebt. Ich kann auch ein bisschen Deutsch. Also, im Grunde lebe ich hier ganz gut.
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