Mehr Züge auf dem Land: Jugend ohne Bahn
In Obernkirchen (Landkreis Schaumburg) fährt die Regionalbahn nur ab und zu für Touristen. Manche vor Ort wollen das ändern. Ein Besuch.
Inzwischen ist er ein wenig ergraut, aber so habe ich Stübke auch noch in Erinnerung aus der Zeit, als ich in den 90ern und 2000ern in Obernkirchen aufwuchs. Da saß er schon im Stadtrat – als einziger Grüner inmitten einer SPD-Hochburg war er wegen seiner Parteizugehörigkeit lange Zeit auf einem einsamen Posten. Beharrlich gab er in ernsten Worten Widerspruch in den örtlichen Debatten, gehört wurden seine Argumente nach meiner Erinnerung kaum.
Stübke schiebt sein Fahrrad um den roten Backsteinbau des Bahnhofs zur Eingangstür des kleinen Warteraums, sein Blick fällt prüfend auf die davor liegenden Gleise. Dort steht eine ältere Frau und rupft Unkraut aus dem Kiesbett. „Wo kommt das nur immer her?“, fragt sie und wirft den Löwenzahn in einen Eimer.
Im linken Teil des Bahnhofsgebäudes mit seinen roten Backsteinfassaden eröffnete vor einigen Jahren ein Kulturcafé. Ob das denn hier im Ort, von der Pandemiezeit mal abgesehen, denn funktioniert? „Hier funktioniert eigentlich gar nichts gut“, sagt Stübke seufzend. Sein Ziel, die Reaktivierung der Gleise vor dem Obernkirchener Bahnhof, scheint noch immer in weiter Ferne zu liegen.
20 Kilometer Gleis
Vor rund 35 Jahren hat Stübke sich erstmals damit auseinandergesetzt, die alte Bahnstrecke wieder zu reaktivieren. Sie führt jeweils rund zehn Kilometer in beide Richtungen: rechts nach Rinteln. Dort gibt es einen Regionalverkehr weiter nach Hameln und nach Ostwestfalen. Nach links, Richtung Stadthagen, führen die Gleise zur Zugtrasse zwischen Hannover und Bielefeld.
Wir befinden uns hier im Landkreis Schaumburg, etwa mittig zwischen den beiden Großstädten. Vor allem nach Hannover pendeln viele aus dem Landkreis zur Arbeit. „Künftig soll es für die Pendler:innen aus Rinteln, Obernkirchen und Stadthagen stündlich eine Verbindung nach Hannover geben“, sagt Stübke.
Sich dafür einzusetzen, diese Bahnstrecke zu reaktivieren, ist bei ihm der Kampf gegen ein Dogma, das in der Region herrscht: „Die ‚Freie Fahrt für freie Bürger‘-Mentalität ist hier stark verankert“, sagt Stübke. Lange Zeit habe es in der Gegend fast keinen Gebrauchtwagenmarkt gegeben. „Hier wurde immer gleich ein neues Auto gekauft.“
Stübke arbeitet beim Landesamt für Geoinformation und Landesvermessung in Hannover, er ist da zuständig für Digitalisierung. Begeisterung für historische oder aktuelle Zugtechnik habe er überhaupt nicht, beteuert er. „Mir geht es hierbei einzig um die Mobilitätswende.“ Seit 2010 geht dafür ein Großteil seiner Freizeit drauf, erzählt er am Holztisch im Bahnhofshäuschen bei einem Kaffee. Ob das zu seinem Lebensprojekt geworden ist? „Das muss man wohl so sagen.“
„Busfahren ist verpönt“
Wer in Obernkirchen und den umliegenden Dörfern aufwächst, dem wird eine tiefe Abscheu vorm örtlichen öffentlichen Personenverkehr eingeprägt. Zur Schule ging es in überfüllten Bussen, in der Freizeit – etwa um ins Schwimmbad zu kommen oder Freund:innen in den anderen Orten zu besuchen – hat man den Bus grundsätzlich nicht genommen.
„Das ist hier in der Region verpönt“, bestätigt Stübke. Den Bus nehmen die, die sich kein Auto leisten können. Er ist eine Zeit lang mit dem Bus zur Arbeit gefahren. „Jemanden im Anzug oder anderer Berufsbekleidung habe ich da drin nie gesehen“, sagt er. Eigentlich seien es nur Schüler:innen gewesen, die morgens mit ihm fuhren.
Als Heranwachsender bleiben einem zum Ausgehen in dieser Kleinstadt nur ein, zwei Kneipen – bei dem man den Altersschnitt durch seinen Besuch massiv senken würde. Wer in die umliegenden Städte – Bückeburg, Rinteln und Stadthagen – wollte, brauchte nette große Geschwister oder Eltern, die einen im Auto kutschierten.
Gerade an den Wochenendabenden waren lange Diskussionen vorprogrammiert. Irgendein Elternteil der Clique hätte uns immer nur bis spätestens Mitternacht noch aus den umliegenden Städten abgeholt. So früh wollten wir natürlich nie nach Hause, eher frühmorgens.
Die Taxis, die wir dann notgedrungen nehmen mussten, haben uns wohl einen niedrigen vierstelligen Betrag gekostet, bis wir 18 wurden und reihum diskutierten, wer diesmal fährt. Die Idee, wenigstens den Hinweg mit dem Bus zu fahren, kam uns gar nicht in den Sinn.
Schienen vor'm Atemstillstand
Und das Fahrrad war fast nie eine Alternative: Dafür ist die Gegend nicht platt genug und E-Bikes waren noch nicht mal eine Zukunftsvision. Und wer abends in dieser Landschaft auf einem Fahrrad unterwegs war, konnte sich sicher sein, dass die Dorfpolizist:innen einen bei ihrer Patrouille anhalten würden. Geschichten von abgenommenen Führerscheinen wegen alkoholisierten Fahrradfahrens gab es zuhauf.
Stübke will diese Zustände ändern. Er will den Busverkehr umkrempeln – mehr Verbindungen, weg von festen Abfahrtzeiten und hin zum flexiblen Anrufsystem mit kleinen, mobileren Minibussen. Und er will dieser alten Verbindungsachse auf dem Gleis Leben einhauchen. Denn die Schienen sind kurz vorm Atemstillstand:
Im Jahr 2010 beschloss der Landkreis, die Strecke endgültig stillzulegen. 1960 war das letzte Mal ein Zug für den Personenverkehr die Strecke gefahren. Seitdem gab es nur noch vereinzelten Güterverkehr. Der Landkreis sah darin keinen Sinn mehr. Eine lose Idee war, die Strecke zu einem Fahrradweg umzuwandeln. „Ich bin ja passionierter Fahrradfahrer, aber ich war vollkommen dagegen“, sagt Stübke.
Vorher gab es schon einen Förderverein, in dem sich die Bahnanhänger:innen für den Erhalt beziehungsweise für die Reaktivierung einsetzten. Doch um die Umsetzung des Beschlusses zur Stilllegung zu verhindern, gründeten Stübke und einige weitere Mitglieder des Vereins kurzerhand eine GmbH, um die 20 Kilometer lange Strecke vom Landkreis zu pachten und in Betrieb zu halten.
Das stoppte die Umsetzung des Beschlusses bislang erfolgreich. Allerdings ist der Betrieb bis heute überschaubar: Neben touristischen Wochenendfahrten gibt es entlang der Strecke eine Handvoll Firmen, die ab und an Güter verladen: Holz, zum Beispiel, oder Kies. Kostendeckend ist das kaum.
Betrieb vor dem Aus
„Wir stehen an der Kippe, ob wir das Engagement noch aufrechterhalten können“, sagt Stübke. Ein bis zwei Jahre halte die Gesellschaft vielleicht noch durch, dann sei Schluss. Geld verdiene damit niemand, eine kleine Aufwandsentschädigung zahlt die GmbH aus. Aber es kommt auch kaum Geld hinein.
Der historische Schienenbus befährt zu touristischen Zwecken an einigen Sonntagen in den Sommermonaten die Strecke – ein Gutschein für so eine Fahrt ist hier in der Region immer auch ein beliebtes Geburtstagsgeschenk an Eltern und Großeltern. Von Rinteln an der Weser geht es über das Wesergebirge teils steil durch kleine Dörfer und entlang des Bückebergs nach Obernkirchen. Von dort, rechts und links gesäumt von Feldern, tuckert der Schienenbus Stadthagen und damit den Beginn der norddeutschen Tiefebene an.
Auch an diesem Sonntag soll wieder eine Fahrt stattfinden. Allerdings nur auf halber Strecke: Die erste Brücke kurz hinter dem Obernkirchener Bahnhof ist sanierungsbedürftig und wurde im letzten Jahr von einem Statiker für den Personenverkehr und schweren Güterverkehr gesperrt – Einsturzgefahr. „Deshalb geht es nur von Rinteln nach Obernkirchen und wieder zurück“, sagt Stübke.
1.000 Pendler täglich
Die Gesellschaft kann die Kosten für die Sanierung nicht aufbringen, der Landkreis will es auch nicht. Vor sechs Jahren ergab eine in Auftrag gegebene Studie, dass sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Reaktivierung nicht rechnet. 1.000 Menschen würden die Bahn täglich nutzen, doch die Kosten des Betriebs seien dafür zu hoch.
„Einen CO2-Preis hat damals niemand miteingerechnet“, sagt Stübke. Außerdem sei es ja so, dass die reaktivierte Bahnstrecke im Kreis Bentheim nun deutlich mehr Menschen nutzten als prognostiziert. Geld für eine neue Studie wollen bislang weder der Landkreis noch das Land bezahlen.
Würde ich noch hier wohnen, würde ich die Bahnstrecke, wäre sie reaktiviert, wohl nur selten nutzen. Ich hätte ein Auto und die Infrastruktur dafür ist einfach unfassbar gut – sie ist im Laufe der Jahrzehnte autogerecht entwickelt worden. Als in Obernkirchens Innenstadt in den vergangenen drei Jahrzehnten immer mehr Geschäfte schlossen, öffnete die Stadt die Fußgängerzone für den Autoverkehr – um mehr Menschen mit kurzen Wegen anzulocken. Geholfen hat es kaum.
Derzeit braucht der Bus für die Strecke von Stadthagen nach Rinteln laut Fahrplan zwischen 48 und 62 Minuten. Eines Tages soll die Zugfahrt weniger als 30 Minuten dauern. Aber reicht das schon, um die Macht des Autos zu brechen? Dass sich daran so schnell etwas ändert, glaubt Stübke nicht. „Das ist die Realität hier vor Ort“, sagt er achselzuckend. Aber es ist nun mal sein Lebensprojekt – für dessen Realisierung es zum jetzigen Stand mehr denn je einen langen Atem braucht.
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