: Der Stadtverkünstlerungsverein
Im Verein ist Kunst am schönsten (6): Zurecht zählen die Kunstvereine seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe: Ihre Erkundungs- und Vermittlungsarbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte: Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben in Porträts. Diesmal: Wolfenbüttel
Von Bettina Maria Brosowsky
Als „klein aber fein“ bezeichnet sich selbst der Kunstverein Wolfenbüttel mit derzeit um die 140 Mitgliedern. Seine Gründung erfolgte 1975 mit sicherem Instinkt während des ersten Europäischen Denkmalschutzjahres, das „eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ forderte. Wenn ein Residenzstädtchen wie Wolfenbüttel den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden hatte, dann sah es dort in den 1970er-Jahren düster aus: Verfall statt schmuck aufgepäppelter Fachwerkhäuser, Plätze und Straßen wie heute – und mittendrin ein nagelneues Kaufhaus von der Stange, das mittlerweile auch schon wieder abgerissen ist.
In diesem Klima entschieden sich engagierte Bürger:innen, die Geschicke ihrer Stadt aktiv in die Hand zu nehmen. Eine Idee: ein Kunstverein, um die Stadtentwicklung mit kulturellen Impulsen zu stimulieren. Neben lokalen Persönlichkeiten wie dem legendären Bibliothekar und Literaturwissenschaftler Paul Raabe, der gerade die ehrwürdige Herzog-August-Bibliothek als internationales Zentrum kulturgeschichtlicher Forschung neu positionierte, engagierten sich Professor:innen der Kunsthochschule Braunschweig für den Kunstverein und stellten dort aus.
Mit ersten Mitteln der städtebaulichen Denkmalpflege floss auch Geld aus dem Kultursektor an den Kunstverein, und das Programm galt seither stets als förderungswürdig. Ebenso lang ist Lienhard von Monkiewitsch dabei: Der weltweit anerkannte Maler und Objektkünstler war Gründungsvorsitzender, noch immer gehört er dem Vorstand an, wenn auch jetzt nur noch als Vize. In den 1990er-Jahren übernahm der Braunschweiger Ex-Galerist Günther Langer die organisatorischen Belange des Kunstvereins, besonders die Finanzen stellte er auf stabile Füße. Mit etwas Sorge blickt er auf die Mitgliederzahlen: kaum neue Eintritte, eher Abgänge, und auch die Braunschweiger Kunststudierenden pflegen, anders als früher, ein geradezu demonstratives Desinteresse.
Von Anfang an nutzt der Kunstverein drei Erdgeschoss-Räume im sogenannten Prinzenpalais, ein Fachwerkkonglomerat direkt im Zentrum Wolfenbüttels, mit Substanz bis ins frühe 17. Jahrhundert. Seine Bezeichnung stammt aus der kurzfristigen Nutzung durch ein preußisch-welfisches Kronprinzenpaar um 1730. Die wechselvolle Geschichte, auch als Bankhaus, hinterließ einen historischen Tresorraum im Keller sowie im Obergeschoss einen der Zeit entrückten Festsaal – beide Räumlichkeiten nutzt auch der Kunstverein.
In Zeiten pandemiebedingter Schließungen kamen dem auch zwei große Schaufenster zupass, ein Relikt der Banknutzung: Mit ihnen war es möglich, Kunst in den öffentlichen Raum zu präsentieren. Das morbide Architekturensemble wurde nach einigen Besitzerwechseln 2019 vom Verein „TonArt“ erworben, der es denkmalgerecht sanieren und als Kulturhaus für Musik und Kunst weiter etablieren möchte.
Seit Anfang 2019 ist Stine Hollmann Geschäftsführerin und künstlerische Leitung. Ihr Programm prägt, unter regulären Bedingungen, eine rasante Taktung: fünf oder sechs Ausstellungen, ein Schulprojekt, eine Sommer-Aktion im Stadtraum und sowie eine im Landkreis Wolfenbüttel.
Das diesjährige Freiluftprogramm findet als Parcours durch die historische Innenstadt Wolfenbüttels statt, Titel: „KiöR – Bestandsaufgabe“. Die Abkürzung steht für „Kunst im öffentlichen Raum“. Das Kunstwort „Bestandsaufgabe“ verweist auf den Bestand als Aufgabe, wie sie beispielsweise die Denkmalpflege wahrnimmt.
Das Thema, so heißt es, knüpft an akute Überlegungen zum Umgang mit Kunstwerken im öffentlichen Raum an, eine Auseinandersetzung, nicht nur in Wolfenbüttel. Wie soll mit altem Kunstbestand umgegangen werden, wenn er städtebaulichen Neuplanungen im Wege steht? Wie und wo können zeitlich begrenzte Projekte Raum finden? Können sie den Stadtraum neu verhandeln, gestalterische Potentiale aufdecken, historische Deutungen aufbrechen, neue Stadtwahrnehmungen initiieren? Sieben eingeladene Künstler:innen sind in die historische Innenstadt aufgebrochen und haben auf räumlich architektonische Situationen reagiert.
Den Wolf aus dem Stadtnamen liest die Kölnerin Stefanie Klingemann dafür in trotziger Volksetymologie als Referenz aufs Tier. Anlass der kreativen Fehllektüre: Sie sah im städtischen Depot die kleine Bronzefigur „Wolf“ des Bildhauers Erich Schmidtbochum (1913–1999). Für einen fiktiven Wolf entwarf sie einen nächtlichen Streifzug durch die Innenstadt, Spaziergänger:innen können, aus der Perspektive dieses Vierbeiners, ihren gewohnten urbanen Raum nun neu erkunden.
Der visuellen Glaubwürdigkeit der Schwerkraft geht Volker Tiemann nach. Der Bildhauer aus Kiel fertigte einen überdimensionierten Stuhl, der, wie mit übermenschlicher Kraft gegen das Gebäude geworfen, in seinen zerborstenen Einzelteilen an der Fassade eines Bankhauses montiert ist. „Die Dinge bleiben nicht von allein dort, wo man sie gerne hätte, sondern man muss verhältnismäßig viel Energie investieren, um die Dinge so aussehen zu lassen, wie sie aussehen sollen“, so Tiemanns sibyllinischer Kommentar zum Objekt. Das lässt sich auch als Appell an den Kunstverein deuten.
KiöR – Bestandsaufgabe: bis 5. 9., Kunstverein Wolfenbüttel
www.kunstverein-wf.de
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