Das von Immigranten gebaute Wirtschaftswunder

Vor 50 Jahren trat das Anwerbeabkommen mit der Türkei in Kraft: Eine Ausstellung in Lübeck dokumentiert, wie Deutschlands Reichtum von Arbeitskräften
aus anderen Ländern erwirtschaftet wurde – und verleiht Menschen ein Gesicht, die als „Gastarbeiter“ mehr stigmatisiert, als willkommen geheißen wurden

„Die Aufzuchtkosten der im besten Alter stehenden Ausländer hat das Auswanderungsland übernommen“

Ulrich Herbert, Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung 1914

Von Friederike Grabitz

Geweißelter Stahlbeton, lichtdurchflutete Räume, auf dem Dach blühen Wiesen. Die Gründächer auf den großen Gebäuden in Lübecks östlichstem Stadtteil Schlutup, in denen heute gerne Künstler ihre Ateliers haben, sind nicht dank Öko-Förderung entstanden. Die Nazis haben damit die dortige Munitionsfabrik getarnt.

Die Arbeiter, die in den Hallen Schwarzpulver in Patronenhülsen füllten, waren 1942 zu 90 Prozent Ausländer. Zuerst starteten die Nazis eine große Anwerbekampagne in Tschechien, Österreich und Osteuropa. Die Arbeitsämter halfen, zuerst mit friedlichen Mitteln, ab 1940 mit Zwang: „In meinem Wohnort erschien eine Bekanntmachung, alle Polen hätten sich auf den zuständigen Arbeitsämtern zu melden. Von dort ist keiner zurückgekehrt“, erinnert sich ein Pole. Die Menschen seien sofort zum Bahnhof gebracht und über Berlin nach Lübeck gefahren worden. Hinzu kamen später Kriegsgefangene.

Viele von ihnen verrichteten auch in einem Hochofenwerk und in der Flender-Werft im Hafenviertel „Herrenwyk“ härteste körperliche Arbeit. Im ehemaligen Kaufhaus der Kolonie zeigt heute ein Museum das Leben der Arbeiter und Arbeiterinnen. Die Ausstellung „GastArbeiter!?“ beleuchtet die Lebensläufe von Immigranten in der Industrie, die später mit dem Begriff „Gastarbeiter“ belegt wurden.

Auch wenn schon in der Nazizeit „Gastarbeiter“ kamen, meint der Begriff im engeren Sinne Migranten, die das deutsche Wirtschaftswunder mit aufbauten. Mit Italien schloss die Bundesrepublik 1955 das erste Anwerbeabkommen. Bis 1968 folgten andere Länder wie Spanien, Griechenland, Marokko und Jugoslawien.

Am meisten Menschen aber zogen aus der Türkei nach Deutschland, nachdem am 30. Oktober 1961 beide Länder in einer „Deutsch-türkischen Vereinbarung“ eine „Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland“ unterzeichnet hatten. Mehr als 2,5 der insgesamt 14 Millionen Arbeitsmigrant*innen, die bis 1973 in die BRD kamen, waren türkische Staatsbürger*innen. Nach der Ölkrise sprach Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) einen Anwerbestopp aus.

Der Blick auf die Wanderung war von Beginn an nicht von humanen Erwägungen geprägt. Den volkswirtschaftlichen Vorteil, bei einer Knappheit an Arbeitern Menschen aus anderen Ländern anzuwerben, fasste der damalige Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung Ulrich Herbert schon 1914 so zusammen: „Die Aufzuchtkosten der […] im besten Alter stehenden Ausländer […] hat das Auswanderungsland übernommen.“ Zudem seien sie eher als Deutsche bereit, besonders harte oder gefährliche Arbeiten zu übernehmen.

Auch das Wort „Gastarbeiter“ atmet diesen Geist: Es enthält die Idee, dass die Arbeiter, sobald nicht mehr benötigt, ins Herkunftsland zurückkehren sollten. Ihre Integration war nicht gewünscht. Provisorisch waren ihre Unterkünfte: Angestellte des Hochofenwerks lebten ab 1966 in einem Wohnheim mit bis zu 16 kleinen Dreibettzimmern. Die Flender-Werft habe türkische Bauern direkt vom Feld geholt, berichtet ein Zeitzeuge. Sie hätten kein Wort Deutsch gesprochen, für Dolmetscher mussten sie aber bezahlen. „Das war Sklavenhändlerei“. Als die Auftragslage der Werft in den 1980ern zurückging, wurden zuerst die Immigrierten entlassen.

Die Ausstellung lässt viele der Immigranten selbst zu Wort kommen. Der Metallschweißer Yilmaz Kargaci erzählt von den ersten Jahren, als er mit seiner Familie in beengten Verhältnissen lebte und kaum Deutsch sprach. Als er krank wurde, blieb er zu Hause bei den Kindern und seine Frau Elvide verdiente Geld in der Fischfabrik. Vor allem vertraute Lebensmittel vermisste die Familie; nach jedem Türkei-Urlaub war der Kofferraum voll mit Oliven und Bohnen. Fremdenfeindlich gesinnte Nachbarn griffen die Kinder an.

Heute fühlt sich die Tochter Cahide Mardfeldt, wie sie sagt, als Deutsche. Ihr eigener Sohn spricht sogar nicht mehr fließend Türkisch. Yilmaz Kargaci dagegen hat immer noch Sehnsucht nach der Schwarzmeerküste – nach 51 Jahren in Deutschland.

„GastArbeiter!?“, Industriemuseum Herrenwyk Lübeck, Kokerstr. 1-3. Bis 14. 11.