Der Libanon ein Jahr nach der Explosion: Das Meer oder die Armut
Seit der Explosion im Beiruter Hafen haben sich die Lebensumstände der Menschen im Libanon weiter verschlimmert. Ein Ortsbericht.
Ein paar Hundert Meter von den zerstörten Hafensilos entfernt, in denen vor einem Jahr das dort gelagerte Ammoniumnitrat in die Luft geflogen ist, steht Noaman Kinno auf seinem Balkon und erzählt von dem schicksalshaften Tag. Wie er, seine Frau und seine Kinder damals verletzt wurden und seine Wohnung zerstört.
Noaman Kinno, Überlebender und Familienvater
Er zeigt Fotos auf seinem Handy, von der verwüsteten Wohnung, von den Verletzungen seiner Kinder und denen seiner Frau, die durch einen Glassplitter fast ihr Auge verlor. Von den Verletzungen, meist von zerbrochenen Scheiben, sind nur noch die Narben über.
Die seelischen lauern im Verborgenen. „Meine zwei Kinder zucken bis heute zusammen, wenn sie ein lautes Geräusch hören“, erzählt Noaman. Die Wohnung wurde inzwischen wieder renoviert, mit der Unterstützung privater libanesischer Selbsthilfeorganisationen. „Von der Regierung habe ich bisher keinerlei Unterstützung bekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt“.
Keine Medikamente, kein Strom
Das libanesische Pfund hat seit der Explosion 95 Prozent seines Werts verloren. In einem Land, in dem so ziemlich alles importiert wird, heißt das, dass auch die Menschen 95 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Man sieht es im Apothekenschrank des größten staatlichen Krankenhauses des Landes, der Rafik-Hariri-Universitätsklink, den Muhammad Ismail öffnet.
Bei den Präparaten für eine Krebschemotherapie herrscht gähnende Leere. Im Lagerschrank daneben, der für Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente bestimmt ist, liegen ein paar vereinsamte Packungen. „Selbst zu den Zeiten des Bürgerkriegs waren unsere Bestände nicht so aufgebraucht“, sagt Ismail. Der Grund ist einfach: Weil der Libanon schon länger nicht mehr seine Rechnungen für die im Ausland gekauften Medikamente bezahlt hat, liefert niemand mehr.
Hassan Moaz sieht im Kontrollraum seiner sechs riesigen Generatoren besorgt auf die Temperaturanzeige. Bei 90 Grad schaltet sich der Generator wegen Überhitzung ab. Der Zeiger steht zwischen 88 und 89 Grad, weil die Generatoren zu lange durchlaufen.
Im Moment hat das Krankenhaus im Schnitt nur 12 Stunden am Tag Strom aus dem libanesischen Netz, den Rest müssen die Generatoren schaffen. „Ich lasse mich jeden Tag von neuen Herausforderungen überraschen. Vor Kurzem gab es drei Tage lang keinen Strom aus dem Netz, und auch das haben wir überstanden“, erzählt Moaz.
Der Geruch der Krise: Faules Fleisch
Auch in der nordlibanesischen Stadt Tripoli, eineinhalb Autostunden von Beirut entfernt, riecht es auf dem Markt nach wirtschaftlichem Kollaps oder besser gesagt: nach verrottetem Fleisch, weil die Kühlketten kaum aufrechterhalten werden können. Das ist ein Grund, warum es im Land vermehrt Lebensmittelvergiftungen gibt. Aber wer kann sich schon Fleisch leisten.
Ein paar Meter weiter streift Mitri Azaar um den Wagen eines Gemüsehändlers. Minutenlang studiert er einen Sack Kartoffeln und überlegt, ob er sich das für seine fünfköpfige Familie leisten kann. „Ich habe eine Pension von umgerechnet 55 Dollar. Deswegen baue ich in meinem Garten Gemüse an und kaufe jetzt die Kartoffeln dazu. Fleisch riechen wir nur aus der Ferne“, erzählt der Veteran der libanesischen Armee.
Adham Maamaris Tagesgeschäft ist die Armut. Er leitet die Al-Zahraa-Wohlfahrtorganisation in der Stadt mit einem Krankenhaus, einem Waisenhaus und einer Armenspeisung. „Der Mindestlohn lag früher bei umgerechnet 450 Dollar, heute ist er nur noch 37 Dollar wert. Eine Studie besagt, dass man für das Überleben einer vierköpfigen Familie aber mindestens 150 Dollar im Monat braucht“, erläutert er.
Schon vor der Krise lebte die Hälfte der Bewohner der Stadt unter der Armutsgrenze. Aber der Kreis jener, die Hilfe benötigen, wird immer größer. „Wir dienen hier normalerweise den Ärmeren am Rande der Gesellschaft. Aber jetzt kommen auch viele Menschen aus der einst gehobenen Mittelschicht zu uns, deren Gehälter oder Renten abgestürzt sind. Ich weiß nicht, wie lange wird das noch schaffen“, klagt er.
Nur die Flucht nach vorne
Für Abu Khaled, der in einem kleine Café arbeitet, Abu Osman, Angestellter bei einem Gemüsehändler, und Osama Amir, einem Schweißer, ist das alles weit weg. Vor ein paar Monaten hatten sie sich mit 73 anderen ein Boot gekauft und sich in Richtung Italien aufgemacht. Doch die libanesische Küstenwache hielt sie auf. Ihr Boot wurde konfisziert.
Jede Woche, erzählen sie, legen hier Boote ab, meist in Richtung Zypern. „Ich verdiene umgerechnet eineinhalb Dollar am Tag. Sie sagen, über das Meer zu fahren, ist zu gefährlich, aber was ist das für ein Leben hier?“ Er würde es jederzeit wieder versuchen, sagt er, ohne zu zögern.
Ammar Maari, der mit seiner Wohlfahrtorganisation das Schlimmste mildern will, meint, es werden sich bald noch viel mehr Menschen aus dem Libanon auf den Weg nach Europa machen. Er fasst die Optionen vieler Libanesen in einem Satz zusammen: „Das Meer liegt vor und die Armut hinter dir.“
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