piwik no script img

Kochen mit dem InternetBesser als Spam

Das Kochbuch „Leaked Recipes“ von Demetria Glace versammelt Rezepte, die im Zuge prominenter Mail-Leaks und -Hacks im Internet gelandet sind.

Herausgefischt: 53 Rezepte aus dem Netz Foto: Emilie Baltz

Rezepte sind die Algorithmen der Küche: strukturierte „Erst dies, dann das, und wenn jenes, dann dieses“-Protokolle, die zu einem vorab definierten Ergebnis führen sollen. Und wie andere Datensätze auch, wie Bilder, Musik, Geschichten und Ideen, sind Kochrezepte seit Jahrtausenden Teil dessen, was wir heute Remix-Kultur nennen. Sie werden kopiert und weitergegeben und dabei modifiziert, angepasst, verbessert, verfeinert.

Die Wege, auf denen dies geschieht, sind verschlungen, informell und wenig erforscht: Lange geschah es nur mündlich, später wurden Aktenordner gefüllt mit abgeschriebenen oder fotokopierten Rezepten, am Rand mit Notizen vollgekritzelt. Seit einigen Jahrzehnten erfolgt die Weitergabe auch elektronisch, und einen kleinen Einblick darein bietet nun das durch und durch faszinierende Buch „Leaked Recipes“ der Britin Demetria Glace.

Die Rezepte waren nicht für ein Kochbuch vorgesehen. Sie stammen aus knapp sieben Millionen E-Mails aus den Jahren 2000 bis 2017, die im Zuge von elf Mail-Leaks und -Hacks im Internet gelandet sind. Glace hat sie mit einigen Dutzend Suchbegriffen – „recipe“ natürlich, aber auch „ingredient“, „­sugar“, „dish“, „cheese“, „chocolate“ oder „garlic“ – durchforstet und so 53 Rezepte herausgefischt.

Dabei habe sie durchaus Unterschiede in der Unternehmenskultur ausmachen können, berichtet Demetria Glace. Manche Arbeitszusammenhänge seien deutlich „foodie“-hafter als andere, manche Leaks gaben gar keine Rezepte her, während beim untergegangenen Skandalkonzern Enron sogar über ein Firmenkochbuch nachgedacht wurde.

Topmanagement kocht Taglioni mit Trüffeln

Weitere Mails stammen aus dem Umfeld von Hillary Clinton und Emmanuel Macron, aber auch von Mit­ar­bei­te­r:in­nen von Sony Pictures oder dem US-amerikanischen Thinktank Stratfor, bis hin zum Topmanagement, das gerne mal Taglioni mit 100 Gramm weißen Trüffeln kocht. Veröffentlicht wurden die Leaks natürlich wegen Inhalten, die auf eine ganz andere Art delikat sind – doch die Enthüllungen über Firmen- und Staatsaffären sind eben nur die Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche der allgemeinen Aufmerksamkeit finden sich Unmengen an Alltagskommunikation.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Kulinarisch gesehen sind die Rezepte eher profan: Viele Dips, Soßen, Beilagen und Desserts sind dabei, auch einige Pasta-, Seafood- und Fleischgerichte. Weniger profan ist es, sie nachzukochen. Demetria Glace hat die Rezepte absichtlich nur so weit bearbeitet, dass sie sie in eine einheitliche Form brachte, ansonsten aber alle Leerstellen und Ungenauigkeiten, die bei der privaten Weitergabe ent­stehen, übernommen – inklusive hilfreicher Hinweise wie „Think of it as a baseline and work from there“ oder „I don’t usually bake them, but my grandma does“.

Doch es geht in „Leaked Recipes“ ja gar nicht wirklich um Essen. Es geht um Kommunikation. In einer Art Making-of im Anhang ihres Buches ergänzt Glace die Rezepte um kurze essayartige Texte über die Hintergründe der E-Mail-Leaks, den Umgang der Betroffenen damit, um Office-Kommunikationskultur und Verschwörungstheorien. Außerdem veröffentlicht sie einige der Original-Mails, aus denen sie die Rezepte extrahiert hat, mit geschwärzten Namen.

FW: <em>Chicken</em><em>Tequila</em> Sauce

Hier finden sich detaillierte Instruktionen für die Gast­geber des Grillabends einer Kirchengemeinde („The menu is a back-yard grill special with an emphasis on casual, easy summer foods. (…) Casual tableware including nice paper/plastic is fine.“), genau wie der Austausch gelangweilter Prak­ti­kan­t:in­nen („I am at internship. It’s slow. I’m kind of bored. wooooooo.“ – „im sorry you’re bored. im at a style x meeting and im pretendig to take ­notes.. muahaha wooooo spring brizzeakkkk!“), und natürlich wurden auch die Betreffzeilen der Mails 1:1 übernommen („Subject: FW: <em>Chicken</em><em>Tequila</em> Sauce“ – „Subject: Re: Fwd: EMAZING Recipe of the Day“ – „RE: November Newsletter Deadline“).

Glace hat seit 2017 an „Leaked Recipes“ gearbeitet, wobei die konkrete Idee eines Buchs erst während des Lockdowns kam. Sie hat versucht, mit allen Rezeptmail-Verfasser:innen Kontakt aufzunehmen, hat alle Gerichte mindestens drei Mal nachgekocht und all das mit viel Liebe zum Detail zu einem Gesamtwerk editiert, das gleichermaßen Kochbuch wie Kunstprojekt ist.

Dazu tragen auch die Fotos von Emilie Baltz bei. Das Essen ist hier auf, in und um Objekte aus der Arbeits- und Computerwelt arrangiert, die zum Teil musealen Charakter haben: Mini-Discs verfeinern ­einen Artischocken-Dip, eine Forelle wird von einem Mehrfach­stecker umschlungen, eine Apple-Retro-Maus liegt neben Schweinerücken und Süßkartoffeln und Dunkle-Schokolade-Kirsch-Cupcakes auf einem Motorola-Klapphandy. Zum Reinbeißen!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!