Anti-LGBTQ-Gesetz in Ungarn: Orbáns riskantes Pokern
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zieht sein antiqueeres Gesetz trotz Protest der EU durch. Er braucht es, um die Opposition im Land zu spalten.
A uf den ersten Blick mag es scheinen, als ob Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auch die aktuellen Kommentare zum antiqueeren Gesetz, etwa seitens der EU-Spitzen, in seinem Land ignoriert: Es sind zwar harte Ankündigungen, vor allem aus der Brüsseler EU-Spitze, auch formuliert Ursula von der Leyen härtere als sonst. Aber der ungarische Populist hat seine Wählerschaft im Blick. Die ist ihm wichtiger als politisches Gewölk gegen ihn, selbst wenn es aus der Hauptstadt der EU kommt.
Die Rede ist von dem neuen Gesetz in Ungarn, das in jeder Hinsicht positive oder auch nur neutrale Darstellungen von Schwulen und Lesben, Trans- und Intermenschen in der Öffentlichkeit Ungarns verbietet. Unternehmen und Bildungsprogramme dürfen nicht in den queeren Farben des Regenbogens werben, aus Buchhandlungen haben einschlägige Titel, etwa Bilderbücher zu queeren Themen, zu verschwinden. Brüssel droht jetzt mit einem Rechtsstaatsverfahren, aber mehr noch: mit dem Entzug von Milliarden Euro aus dem Finanzpaket der EU aus dem Corona-Wiederaufbaufonds.
Auf den Klang des Geldes hören auch illiberale Potentaten wie Orbán akkurat. Eigentlich nur auf diesen. Er wird wissen, dass sein Land ohne die EU allenfalls ein karger Landstrich im mittelosteuropäischen Irgendwo wäre. Und trotzdem nimmt er auf die liberalen Proteste gegen das finstere Gesetz keine Rücksicht. Er braucht es innenpolitisch: Für die antiqueeren Bestimmungen votierten nämlich auch die früheren Rechtsextremen von der Jobbik-Partei, die eigentlich mit den Linken und Liberalen ein Anti-Orbán-Bündnis zu den nächsten Parlamentswahlen schmieden.
Diese Gegenbewegung zu Orbán ist jetzt gespalten. Darüber hinaus ist die Gesetzesbestimmung so vage, dass eine polizeiliche Verfolgung bei Überschreiten häufig schwierig sein dürfte. Dass ein queeres Kinderbuch nicht mehr vorrätig gehalten wird, ist klar; dass aber künftig Thomas Manns „Tod in Venedig“ oder Virginia Woolfs „Orlando“ in den Streamingdiensten wie queere Serien und Filme per Geoblocking indiziert werden, ist nicht sehr wahrscheinlich.
In Wahrheit dient das Orbánsche, um es mal salopp zu benennen, Queer-igittigitt-Projekt der Einschüchterung der ungarischen Gesellschaft, eines Landes, dessen bester Nachwuchs emigriert – nicht nur der queere. Ein Land, das seit dem Fall des Eisernen Vorhangs einen ökonomisch oder kulturell bedingten Bevölkerungsverlust erlebt, sodass sich ganze Landstriche geleert haben, wird von Orbán und den Seinen mit einer (auch schon in der Verfassung formulierten) Strategie beantwortet: Only heterosexual lives matter!
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