: Markt der Ideologien
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
„Flexibilität“ heißt das Zauberwort der Globalisierung, und wer sich daran nicht hält, ist hoffnungslos altmodisch. Dumm nur, dass die Ökonomie ein Fach mit einer gewissen Logik ist: Wer die Tarife flexibel macht, macht die Gewinne starr und umgekehrt. Wenn der schwache Betrieb nur noch zahlen muss, was er sich wirtschaftlich leisten kann, ist die Marktwirtschaft am Ende. Heiner Flassbeck, Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der UNO (Unctad)
Was ist Ideologie? Man könnte die Frage auf der Ebene der Alltagsphänomenologie beantworten – danach wäre Ideologie etwa alles, was ein frustrierter Alt-68er in seiner Stammkneipe so von sich gibt, sobald ihm das dritte Glas Bier die Zunge löst. Breiteste Zustimmung wäre gesichert.
Sucht man nach anspruchsvolleren Definitionen, wird es komplizierter. Das hängt natürlich damit zusammen, dass der Begriff Ideologie ein Kampfbegriff ist und, ähnlich wie ein Schweizer Taschenmesser, für die unterschiedlichsten Operationen im allgemeinen Hauen und Stechen eingesetzt werden kann. Ideologisch vernagelt ist ja immer der andere. Die für ideologisches Denken erforderlichen Geräte wie Scheuklappen oder das berühmte Brett vor dem Kopf werden stets nur dem politischen Gegner angehängt.
Der gesunde Menschenverstand urteilt ideologiefrei. Sagt man. Allerdings ist ihm auch nicht immer zu trauen, zumal seine beeindruckende Gesundheit ihn keineswegs davor bewahrt, dass es ihm gelegentlich an Verstand gebricht. Das haben Marx und Engels in ihrer „Deutschen Ideologie“ von 1846 nachgewiesen und sind prompt unter Ideologieverdacht geraten – so nachhaltig, dass jeder, der sich ihre Schrift wieder vornimmt, vor dem eklatanten Widerspruch steht, gerade von den allerschlimmsten Ideologen die gediegenste Auskunft zum Thema Ideologie zu erhalten. Dass Ideologie das „falsche Bewusstsein“ der Beherrschten und dringend korrekturbedürftig sei, gilt bis heute.
Was vom Orkan der freien Marktkräfte in der Welt der Tatsachen schon weggefegt oder dezimiert wurde, muss noch als falsches Bewusstsein in den Köpfen der Beherrschten abgeräumt werden: der Kündigungsschutz und der Flächentarifvertrag, die klassenlose Gesundheitsversorgung und der Anspruch auf eine gesicherte Rente, der Schutz der Kinder vor Armut und ihr Recht auf einen Ausbildungs- oder gebührenfreien Studienplatz. All dies, so erfahren wir von den neuen Himmelsstürmern, sei pure Ideologie. Nur hat sich seit Marx und Engels eine Kleinigkeit verändert: Heute treiben nicht irgendwelche revolutionären Zuchtmeister, sondern die Herrschenden selbst den Beherrschten ihre Flausen aus dem Kopf.
Dumm nur, dass die Ökonomie ein Fach mit einer gewissen Logik ist, sagt Heiner Flassbeck: ein Ökonom, der sich im Dienst der UNO den Luxus leistet, darüber nachzudenken, ob die gegenwärtige Marktwirtschaft überhaupt ihren eigenen Gesetzen folgt. In einem kleinen, vermutlich wenig beachteten Artikel in der Frankfurter Rundschau ist er jetzt zu dem Ergebnis gekommen, dass es zur Zeit zu viele Ökonomen gibt, die als Ideologen des Marktes gegen seine Logik verstoßen. Offenbar ist das bewährteste System nicht dagegen gefeit, von seinen Fanatikern missverstanden und, wenn’s schief läuft, in den Abgrund gesteuert zu werden. So wie der Nationalismus Nazis und der Islam islamistische Fundamentalisten hervorgebracht hat, gebiert die Lehre vom freien Markt eben Marktradikale, die gegebenenfalls ihre eigenen Grundlagen zerstören. Und zwar, weil sie zu rasenden Ideologen geworden sind.
Flassbeck befasst sich mit Leuten aus seiner Innung, „die als stramme Marktwirtschaftler gelten, aber gleichzeitig so tun, als könne man das Lohnniveau insgesamt oder den Lohn jedes einzelnen Arbeiters so manipulieren, wie es gerade gefällt“. Der Satz birgt einen bewusst eingebauten Stolperstein. Schließlich haben wir alle gelernt, dass Marktwirtschaft Kapitalismus ist. Dass Kapitalisten Gewinne machen müssen, um den Laden am Laufen zu halten. Und dass sie gezwungen sind, zu diesem Zweck das Lohnniveau zu manipulieren. Oder sagen wir es mit Arbeitgeberchef Hundt: die Löhne in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Jetzt kommt der Marktwirtschaftler Flassbeck und sagt, das verstoße gegen den Geist der Marktwirtschaft. Das sei zwar populär, aber nichts als Ideologie.
Wie das? Flassbeck rechnet den Marktradikalen noch einmal die Mathematik von Adam Smith, David Ricardo und anderen Klassikern der bürgerlichen Ökonomie vor. Danach hat jeder Unternehmer eine Menge Kosten: Er muss die Produktionsmittel bei der Konkurrenz kaufen, die Kredite bei einer Bank – und die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt. Die Kosten für Letzteres nennt man Lohn. „Der Lohn jeder angebotenen Arbeitseinheit folgt – genau wie der einzelne Preis am Gütermarkt – der Knappheit, entspricht also dem Gesetz von Angebot und Nachfrage.“ Zurzeit täuscht die Zahl von 5 Millionen Arbeitslosen eine gewaltige Angebotslage vor. Tatsache ist jedoch, dass in etlichen Branchen das Angebot, zumal an qualifizierter Arbeitskraft, knapp ist.
Könnte, fragt Flassbeck, eine angeschlagene Firma bei ihrer Bank oder ihren Lieferanten niedrigere Zinsen oder Preise fordern, weil sie die starren Konditionen nicht mehr verkraftet? Das würde nicht funktionieren. „Nur bei den Löhnen ist das anders. Da kann jedes Unternehmen die Angst seiner Arbeitnehmer ausbeuten und darf jede Krise und jedes schlechte Management überleben, weil es mit dem Hinweis auf den Verlust der Arbeitsplätze den Beschäftigten die Zustimmung zur Senkung ihrer Löhne abpressen kann.“
Weil sich der einzelne Arbeiternehmer nicht marktwirtschaftlich verhalten, das heißt, seine Arbeitskraft zu seinen Bedingungen verkaufen kann, hat er sich gewerkschaftlich organisiert. Doch das hilft ihm wenig, denn auch die Gewerkschaften haben die Kröten, die da Flexibilisierung, Deregulierung und Entsolidarisierung heißen, längst geschluckt. Ein Kotau vor der Marktwirtschaft? Genau das Gegenteil, denn, sagt Flassbeck, „was heute als flexibles und modernes Arbeitsmarktmodell gepriesen wird, ist weder alt noch neu, sondern schlicht antimarktwirtschaftlich“.
Dem Wissenschaftler, der in der „Division on Globalization and Development Strategies“ der Unctad sitzt, kann man wohl nicht vorwerfen, dass er von seinem Genfer Büroturm aus die Weltwirtschaft nicht übersieht. Die Fragen, die sich aus seiner Analyse ergeben, sind klar: Kann es Marktwirtschaft genannt werden, wenn ein wichtiger Kostenfaktor, die menschliche Arbeit, als Manövriermasse behandelt wird, als Restgröße, die sich aus der Berechnung von Preis und Kapitalzins, Profit und Gewinnspanne ergibt? Wird hier reguliert oder dereguliert? Müsste die Strategie, die das „Humankapital“ wieder zu einem marktwirtschaftlichen Wert macht, nicht „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ heißen? Und verkünden die Antiideologen des entfesselten Markts nicht in Wirklichkeit nur eine neue Ideologie – noch dazu eine, die den Markt ruiniert?
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