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Wie man keine Revolution macht

Zum 200. Geburtstag Gustave Flauberts hat Michel Winock eine international beachtete Biografie des Schriftstellers vorgelegt

Michel Winock: „Flaubert. Biografie“. Hanser Verlag, München 2021, 656 Seiten, 36 Euro

Von Claus Leggewie

Umständehalber konnte man zuletzt die dicken Romane lesen, die man sich immer schon vorgenommen hatte. Bei mir waren das Gustave Flauberts „Madame Bovary“ und die „Education sentimentale“, beide neu übersetzt, Letztere mit dem Titel „Lehrjahre der Männlichkeit“, der mich nicht recht überzeugt hat. Wohl aber Flauberts Herangehensweise – impersonnalité und impassibilité –, die er in einem Brief folgendermaßen beschrieben hat: „Der Autor muss in seinem Werk sein wie Gott im Universum, überall präsent und nirgendwo sichtbar“ (9. Dezember 1852).

Wer war dieser ubiquitäre Autor? Zu vielen dickleibigen Arbeiten berühmter Autoren wie zum Beispiel Jean-Paul Sartre ist gerade eine weitere Biografie ins Deutsche übersetzt worden. Sie ragt aus der schier unüberschaubaren Flaubert-­Biblio­thek heraus.

Der bekannte Historiker Michel Winock hat nun Leben und Werk, Psyche und Methode, Romanwerk und Briefe bis ins kleinste Detail zerlegt und ordnet Flauberts Vita (1821–1880) in die politische Geschichte Frankreichs ein, die sich von der postnapoleonischen Zeit über die beiden Revolutionen von 1830 und 1848, den Staatsstreich Napoleons III. 1851 bis zum Beginn der Dritten Republik und der Pariser Kommune erstreckt und Flauberts literarisches Schaffen von den frühreifen Versuchen über höchsten Bovary-Ruhm bis zur letztlichen Verarmung geprägt hat.

Michel Winock hat sich als Intellektuellenhistoriker einen Namen gemacht und Biografien zu Madame de Staël, Charles de Gaulle und François Mitterrand vorgelegt. Er macht den zeitgeschichtlichen Hintergrund Flauberts lebendig, ohne den Romancier damit zum Autobiografen oder Geschichtsschreiber zu degradieren.

„Frédéric, das bin ich nicht“, ist das Kapitel über die Gefühlserziehung überschrieben, die dem Romanhelden Fréderic Moreau und seiner opportunistischen Freundesgruppe als Repräsentanten einer trostlosen Generation um 1848 so gründlich missraten ist.

„Frederic, das sind wir“, lautet dann die traurige Bilanz eines Parcours, der auf Barrikaden im Februar 1848 grandios begonnen hatte, nur um vor dem bonapartistischen Coup d’Etat von 1851 einzuknicken, den der ziemlich genau gleichaltrige Karl Marx als Repetition der historischen Tragödie (Napoleons) in Gestalt einer Farce (seines Neffen) interpretiert hat.

Winock setzt die historische Dynamik der Restauration in Bezug zu Flauberts stets nach dem wahren Leben konstruierten Romanfiguren – von den „Mémoires d’un fou“ (1838) über den Weltlongseller „Madame Bovary“ (1857), die vor Grausamkeit strotzende Orient-Exkursion „Salammbô“ (1862), die „Éducation sentimentale“ (1869) und das erst spät vollendete Frühwerk „La Tentation de Saint Antoine“ (1874) bis zu dem schon für das nächste Jahrhundert stilbildenden Fragment „Bouvard et Pécuchet“ (1881) und dem erst 1911 veröffentlichten „Wörterbuch der Gemeinplätze“.

Lassen wir die delikaten, oft peinlichen Amouren von Autor und Romanfiguren beiseite und bleiben bei den „drei glorreichen Jahren“ nach 1848, als das Zeitgeschehen dem Schriftsteller auf die Pelle rückt, der bis dato nicht einmal die Tagespresse gelesen hat. Im Freundeskreis, Milieu und Zeitgeist der jungen Männer (der gute Dussardier einmal beiseite gelassen) herrscht „Desillusionsromantik“ (Georg Lukács): Was immer sie erleben und anfassen, es führt zu Enttäuschung. Genau wie sie macht der Romancier keine Revolution, er schreibt sie.

Der Bourgeois Flaubert verachtet die Bourgeoisie, aber mehr noch die Arbeiter

Dazu hat er kiloschwere Quellenwerke gewälzt und jedes Detail auch für die kleinsten Nebenrollen recherchiert. Wenn der Liebesroman Madame Bovary eine Widerlegung der Liebe war, dann soll dieser Ge­ne­ra­tions­roman die kollektive Dummheit des Bürgertums blanklegen. Der Bourgeois Flaubert verachtet die Bourgeoisie (aber mehr noch die Arbeiter), die freudlosen Antihelden machen sich lächerlich, die Barrikadenkämpfer unterwerfen sich letztlich dem ­Bonapartismus von „Napoléon petit“ (Victor Hugo).

Die Revolution ging ohne diese unsicheren Kantonisten weiter in Richtung Industrie, Handel, Banken, Klassenkampf von oben und unten. Künstlern blieb nur die zeitlose Form: „Malerei und sonst nichts“ hatte sich auch der eine Generation ältere ­Eugène Delacroix gewünscht, Maler der berühmten Ikone der Freiheit auf den Pariser Barrikaden, der im Orient eine neue Wirklichkeit suchte.

Auch Flaubert bereiste die Kolonien in Nordafrika und fügte aus diesen Eindrücken das nächste Romanprojekt: „Salammbô“, die Geschichte der fiktiven Tochter des realen Hamilkar im historischen Karthago, zur Zeit des ersten Punischen Kriegs.

Auch die Lektüre dieses Romans läge noch vor mir, doch lohnender, weil erschreckend aktuell dürften die köstlichen Plattitüden sein, die Gustave Flaubert für sein „Dictionnaire“ aufgeschnappt hat. Nicht groß abgewandelt, scheinen sie dem postmodernen Bourgeois aufs Twitter-Maul zu schauen.

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