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Doch kein Besuch bei lebenden Leichen

In der Dokumentation „Die letzten Reporter“ glücken Jean Buoé im ruhigen Stil des „direct cinema“ starke Momentaufnahmen von Lokaljournalismus in der norddeutschen Tiefebene. Der scheint vom Aussterben bedroht. Aber tot ist er noch nicht

Block und Stift bleiben das Handwerkszeug für echte Reporter*innen: Anna Petersen auf Termin in Lüneburg Foto: Jean Boué / imFilm

Von Wilfried Hippen

Ein Flüchtling aus Syrien engagiert sich bei der freiwilligen Feuerwehr seines neuen Wohnortes in Niedersachsen. In Mecklenburg-Vorpommern spielt und siegt eine einheimische Schülermannschaft im Radball. Der Schlagersänger mit dem anstößigen Künstlernamen Christian Steiffen reimt in seinem Lied „Verliebt, verlobt, verheiratet“ so unanständige Textzeilen, dass es im Radio nicht gespielt wird. Das sind keine Neuigkeiten, die die Welt bewegen. Doch in Lüneburg, Schwerin und Osnabrück gibt es Leser*innen, die für solche Nachrichten aus ihrer Region dankbar sind.

Allerdings werden es immer weniger, denn die Le­se­r*in­nen­schaft von auf Papier gedruckten Regionalzeitungen schwindet. Und wenn Lo­kal­jour­na­lis­t*in­nen nicht lernen, sich in den digitalen Medien einen Platz zu sichern, zählen sie zu den „Leichen, die zurückbleiben“.

So drastisch drückt es eine Dozentin bei einem Seminar zum Thema aus, und für den Sportjournalisten Thomas Willmann, der für die Schweriner Volkszeitung arbeitet, ist dies ein Weckruf. So nimmt er Abschied von seinem alten Handy, das er „den Knochen“ nennt, und beginnt widerwillig mit dem Smartphone zu arbeiten, das ihm seine Redaktion beschafft hat. Willmann ist einer von den drei „letzten Reportern“ (einen Filmtitel lässt sich kein Verleih durch gendergerechte Sprache verhunzen), die Jean Boué in seiner Dokumentation vorstellt. Willmann berichtet von regionalen Sportveranstaltungen, die sonst in den Medien nicht auftauchen. Er macht dies mit einer Ernsthaftigkeit und Liebe zur Profession, die Boué mit ruhigen, nie gestellt wirkenden Bildern einfängt.

Sein Stil ist dem „direct cinema“, also der reinen Beobachtung verpflichtet, und so folgt er mit der Kamera seinen drei Pro­tago­nis­t*in­nen bei ihren Recherchen. Kernsätze aus ihren Artikeln lässt er sie dann im Off vorlesen, und er zeigt auch, wie sie in den Redaktionen arbeiten – Willmann im altbewährten Zwei-Finger-Such-System.

Die drei ergänzen sich dabei ideal. Wenn etwa Willmann für die alte Garde der Reporter steht, ist die 28-jährige Anna Petersen am Anfang ihrer Karriere. Für die Landeszeitung Lüneburg schreibt sie über soziale Themen, und bei einem Einsatz am Hörer*innentelefon der Zeitung zeigt Boué sie dabei, wie sie geduldig Beschwerden über die fehlende Weihnachtsbeleuchtung, falsche Straßenbeschilderung und „üblen Geruch“ entgegennimmt.

Sie macht parallel zu ihren Artikeln kleine Videobeiträge, die dann auf der Homepage ihrer Zeitung erscheinen. Und sie hat ein Talent dafür, Menschen zuzuhören und ihre Geschichten zu erfahren. So etwa bei einer jungen Frau, die, im Heim aufgewachsen, nun zum ersten Mal in eine eigene Wohnung gezogen ist. Anna Petersen hat sie ein Jahr lang begleitet. Für den Artikel „Chaos im Kopf“, den sie über diese Langzeitbeobachtung geschrieben hat, wurde ihr vor ein paar Wochen der renommierte Theodor-Wolff-Preis verliehen.

Boué war mit seiner Kamera bei einem ihrer ersten Besuche dabei und hat so den Moment eingefangen, in dem klar wurde, dass die Frau am fetalen Alkoholsyndrom leidet, also als Fötus im Mutterleib mit Alkohol in Kontakt geriet. Die sichtlich erschütterte Anna Petersen spricht in einem genau passenden Lapsus von einem „fatalen Alkoholsyndrom“. Boué hat das unaufgeregt aufgenommen und montiert.

Wenig später zeigt er dann, wie sein dritter Protagonist, der Kolumnist Werner Hülsmann, für das Anzeigenblatt Osnabrücker Nachrichten eine Homestory bei Ulla Weller macht, die Sopranistin und Gattin eines Autohausbesitzers ist. Die Fallhöhe zwischen den beiden Geschichten ist extrem, aber für Boué ist dieser Besuch ein weiterer Glücksfall, denn die Audienz der sehr von sich überzeugten Sangeskünstlerin ist ein Stück absurdes Theater voller unfreiwilliger Komik.

Thomas Willmann auf Augenhöhe mit erfolgreichen Rennradlern Foto: Jean Boué / imFilm

Und Werner Hülsmann findet dann auch in seiner Kolumne „Werners Cocktail“, die er seit 30 Jahren schreibt, den passend ironischen Ton, wenn er schreibt: „Solange die Rolling Stones noch auf Tour gehen und Ulla Weller Charitykonzerte gibt, ist die Welt noch in Ordnung.“

Im Sommer 2019, als diese Sequenz gedreht wurde, war „die Welt“ ja in einem ganz anderen Sinne noch nicht aus den Fugen. Boué drehte die letzten Einstellungen für „Die letzten Reporter“ im Februar 2020. Corona kommt im Film also nicht vor. 2020 hätte Boué auch erst gar nicht versucht, ihn zu drehen. Aber heute sieht man ihn schon mit anderen Augen, wenn etwa bei einem Ringkampf in Schwerin die dichtgedrängte, entfesselte Masse der Zu­schaue­r*in­nen ihren Lokalmatador anfeuert.

Solche Momentaufnahmen aus der norddeutschen Provinz sind es, die „Die letzten Reporter“ so sehenswert machen. Wenn Boué die drei Re­por­te­r*in­nen begleitet, gelingen ihm Momentaufnahmen vom dortigen alltäglichen Leben. Auf pittoreske Bilder und Klischees wie den schon sprichwörtlichen Besuch beim „Kaninchenzüchterverein“ hat er dabei bewusst verzichtet und stattdessen im „nichts Besonderes“ ganz erstaunliche Entdeckungen gemacht.

In gewissem Sinne ist damit auch Jean Boué einer der „letzten Reporter“: Auch für solche unspektakulären, sorgfältig produzierten Dokumentationen, die sich Zeit für ihre Geschichten und Ak­teu­r*in­nen nehmen, wird der Markt immer kleiner.

Die letzten Reporter — Premiere 20. 6., 18.30 Uhr, Burgtheater Ratzeburg, mit Regisseur und Produzent Jean Boué.

Vorführungen: 21. 6., 19 Uhr, Universum, Braunschweig,

24.-27. und 29. 6, jeweils 18 Uhr, Koki, Lübeck. Läuft danach in Hamburg, Schwerin, Lüneburg und Uelzen

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