Interview mit Umwelthistorikerin: „Man sprach vom Miasma“
Hippokrates, kohlenstaubverschmutzte Wäsche und die Entdeckung des Sauerstoffs: Ein Gespräch über das Bewusstsein für Luft und deren Verschmutzung.
taz am wochenende: Frau Arndt, als Umwelthistorikerin beschäftigen Sie sich damit, wie sich die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur in der Vergangenheit verändert haben. Welche Rolle spielt da die Luft?
Melanie Arndt: Die Luft begegnet uns Umwelthistorikerinnen vor allem in einer problematischen Weise, nämlich als Luftverschmutzung, ihre Ursachen und Folgen.
Wann haben Menschen bemerkt, dass es Luft gibt und sie lebensnotwendig ist?
Im Grunde wissen die Menschen das schon seit der Antike. Hippokrates, der als Erfinder der Medizin gilt, sprach bereits von der Bedeutung der Luft für das menschliche Wohlbefinden, ohne aber genau die Prozesse bestimmen zu können, die es dafür braucht. Um 1700 setzte sich dann der italienische Arzt Bernardino Ramazzini mit den Vorgängen im Körper auseinander. Er entdeckte zahlreiche Asthmaformen bei Arbeitern, die viel Staub ausgesetzt waren. Sauerstoff wurde aber erst Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt und seine Bedeutung für die Atmung noch später. Es hat also lange gedauert, bis man Luft chemisch oder biologisch erklären konnte, aber die Ahnung, dass Luft sehr, sehr wichtig ist und es gute, saubere und schlechte, krankmachende Luft gibt – die hat es wohl immer gegeben.
Woher kam diese Ahnung?
Die Menschen machten viel an Gerüchen fest. Mitte des 19. Jahrhunderts sprach man zum Beispiel vom Miasma. Heute würde man sagen: alles, was nicht gut riecht, Faulgase, Müll, die Ausdünstungen erster Kanalsysteme. Diesem Miasma schrieb man zu, Krankheiten auszulösen, ohne dass man es erklären konnte. Es gab aber auch Phasen, in denen man schlechte Luft nicht als gesundheitliches, sondern als ästhetisches Problem wahrnahm: dass sich beim Heizen klebriger schwarzer Ruß an den Wänden festsetzte und die Bettwäsche beim Aufhängen dunkel färbte.
Warum verschmutzte man die Luft trotzdem so sehr?
Melanie Arndt ist Professorin für Wirtschafts-, Sozial und Umweltgeschichte an der Universität Freiburg. Ihre Habilitationsschrift ist als Buch erschienen und trägt den Titel „Tschernobylkinder“ (Vandenhoeck&Ruprecht, 2020)
Das hängt natürlich viel mit dem Wunsch nach wirtschaftlichem Wachstum zusammen. So richtig begann die Luftverschmutzung mit der Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert, besonders stark war sie aber im 19. Jahrhundert, als immer mehr mit Kohle geheizt und befeuert wurde – nicht nur die Wohnungen, auch die Dampfkessel der Lokomotiven und Fabriken. Die Folgen davon nahm man allerdings nicht sofort als Problem wahr. Es gab Zeiten, in denen man Zeichnungen von Städten mit Schornsteinen, aus denen schwarzer Rauch aufstieg, schön fand, weil sie den Fortschritt abbildeten.
Wann änderte sich das?
Schon 1661 schrieb der englische Architekt John Evelyn eine der ersten Schriften zu Luftverschmutzung: das „Fumifugium“. Darin prangerte er an, dass der Rauch in London krank mache. London war auch anschließend stark von der Verschmutzung betroffen, weil mit der Industrialisierung auch die Urbanisierung voranschritt. Um 1900 lebten in London 6,5 Millionen Menschen, die alle Feuerstellen hatten, hinzu kamen die industriellen Öfen. Man registrierte zwar schon ungewöhnliche Sterbefälle und Lungenkrankheiten, aber man konnte den Zusammenhang noch nicht nachweisen. 1905 kam es dann zur Bildung eines extremen Smogs. Auf den großen Straßen Londons musste man Laternen aufstellen, weil es tagsüber dunkel blieb, da war allen klar, dass das nicht gut ist.
Und dann tat man was dagegen?
Bereits im 19. Jahrhundert baute man die Schornsteine höher, setzte Filter ein, erforschte die Verbrennungsprozesse und verhängte Strafen bei Missachtung der Vorgaben. Der Wunsch nach Fortschritt und Wachstum überwog allerdings. Und je wichtiger das Wachstum wurde, desto einflussreicher wurde die Lobby der Industrie. Die notwendigen Schutzmaßnahmen waren in der Regel teurer als die Bußen, die man zahlen musste, wenn man die Schadstoffe ungefiltert in die Luft ließ.
Kommt mir bekannt vor.
Es ist aber zu einfach zu sagen, allein die „böse“ Wirtschaft sei schuld. Sie wird auch von uns als Gesellschaft getragen, einer Gesellschaft, die Komfort haben will. Man reagierte zum Beispiel erst sehr spät darauf, dass Autoabgase schädlich sind. Zum einen weil die Autoindustrie von sich aus wenig an der Erforschung und Publikmachung möglicher schädlicher Folgen interessiert war, aber natürlich auch, weil die Menschen gerne mit dem Auto durch die Gegend fahren wollten. Ähnliches trifft auf den Tabakrauch zu, wobei es hier schon ein sehr starkes Bemühen der Unternehmen gab, Rauchen als unproblematisch für die Gesundheit erscheinen zu lassen. Oder die Heizungen, die immer noch die meisten Emissionen produzieren, was den Haushalt angeht.
Wie hat sich das Verhältnis von Mensch und Luft trotzdem verbessert?
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Durch die nationalen und internationalen Vereinbarungen, die in vielen Ländern der Welt – allen voran in Deutschland, Westeuropa und den USA – zu einer Verbesserung führten. Es gibt allerdings immer noch Regionen auf der Welt, in denen Luftverschmutzung ein großes Problem ist, teils wegen heftiger Industrialisierungsprozesse, teils weil autoritäre Regimes keinen Wert auf Umweltschutz legen. Die Gesetzgebung, die in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik beschlossen wurde, hatte viel mit der Veränderung der Gesellschaft zu tun: die wachsende Umweltbewegung der 1970er, die Anti-Atomkraft-Proteste, der stark diskutierte Bericht von den Grenzen des Wachstums 1972. Der Druck war enorm. Eine Regierung, die weiter regieren wollte, konnte es sich kaum leisten, nicht darauf zu reagieren. Zumindest offiziell. Was davon umgesetzt wurde, steht auf einem anderen Blatt.
Halten Sie es für möglich, dass die Luft den Menschen auch wieder egaler wird?
Ich wollte eigentlich sagen, dass es schwierig ist, hinter die Standards zurückzufallen, die wir einmal gesetzt haben. Gleichzeitig haben wir beispielsweise in den USA unter Donald Trump gesehen, dass es durchaus möglich ist, Rückschritte zu machen. Ich glaube aber, dass das Wissen um Luft und Umwelt in der Gesellschaft inzwischen tatsächlich viel zu sehr verankert ist, als dass es komplett verdrängt werden könnte.
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