: Die Freundschaft und die Nahrungskette
Sie haben mehr zu verlieren als ihre Käfigmauern: In „Madagascar“, dem neuen Animationsfilm von Dreamworks Pictures, landen vier Tiere aus dem New Yorker Zoo in der Wildnis – und die Regisseure Eric Darnell und Tom McGrath richten es so ein, dass die vier mit der Freiheit nicht klarkommen
VON CORD RIECHELMANN
Was macht man, wenn man im Knast sitzt, mit einem Löffel einen Tunnel nach draußen gräbt und beim Graben der Löffel bricht? Sich einen neuen Löffel besorgen, natürlich. Bei der Wiederbeschaffung des Löffels kann es hilfreich sein, wenn der Knast der Zoo im New Yorker Central Park ist und man selbst Teil einer Gang von vier Pinguinen. Da können dann zwei andere weiter den menschlichen Besuchern im Zoo so zuwinken, als könnten sie kein Wässerchen trüben, während der dritte in den Zoograben abtaucht und im günstigen Moment hochspringt, um einem Besucher einen Löffel zu klauen. Damit können die Tunnelgrabungen weitergehen, und der Schein der netten Tierchen im Zookäfig bleibt gewahrt.
Die vier Pinguine, Skipper, Kowalski, Private und Rico heißen sie, sind in dem Animationsfilm „Madagascar“, der neuen Produktion von Dreamworks Pictures, die Initiatoren und Antreiber einer Handlung, die in ihrem Verlauf vier andere Tiere, einen Löwen, ein Zebra, eine Giraffe und eine Flusspferddame, aus dem New Yorker Zoo in die Wildnis Madagaskars führt. Die Pinguin-Gang fundiert, obwohl sie nicht die Hauptdarsteller des Films sind, sozusagen das Paradox der Fragestellung. Amerika, so erzählt es der Mythos, ist ja voll von Leuten, die von überall aus der Welt gekommen sind, um der Herrschaft, sei sie ungerecht oder nicht, zu entkommen und die Freiheit zu suchen. Und auf dem langen Weg der Suche nach der Freiheit sind die vier jetzt bei dem Ergebnis angekommen, dass es das luxuriöse – man wird gefüttert und bestaunt, es winken sogar jeden Tag hunderte von Menschen – und bequeme Leben im Central Park Zoo nicht gewesen sein kann. Die Freiheit wohnt auch für die New Yorker Pinguine anderswo.
Dabei sind diese Pinguine Amerikaner im besten Sinn: paranoid, pragmatisch, hochintelligent, intrigant und ohne allzu genaue historische und geografische Kenntnisse. Ihre kritischen Reserven mobilisieren sie nie am falschen Ort. Sie wissen nur, sie wollen irgendwo hin – Antarktis oder so. Da, das hat ihnen irgendjemand erzählt, sollen sie herkommen, und da wollen sie hin. Unterwegs von New York nach sonst wohin kapern die Pinguine auf dem großen, weiten Meer das Schiff, auf dem auch Löwe, Zebra, Giraffe und Flusspferd in Transportkisten eingesperrt sitzen. Die Entehrung des Schiffes durch die Pinguine ist sozusagen das Ende des anarchistischen Elements im Film. Danach kehrt wieder Ordnung ein. In einem aberwitzigen Wendemanöver gehen die großen Tiere über Bord und landen in der Folge an der Küste Madagaskars. Die Pinguine verschwinden mit dem Schiff, man sieht ihnen ohne Sentimentalität nach. Die Pinguine, das weiß man, kommen durch.
Dass sie den Machern von „Madagascar“ mehr sind als nur die Beschleuniger bestimmter Situationen, merkt man auch daran, dass im amerikanischen Original einer der beiden Regisseure, Tom McGrath, den Anführer der Pinguine, Skipper, selber spricht. Und McGrath gibt, wenn er sagt, er habe in seiner Stimme für Skipper eine Portion Charlton Heston haben wollen, noch den Hinweis auf eine andere anarchistische Referenz. Charlton Heston wurde in einer der ersten Folgen von „Planet der Affen“ aus den frühen Siebzigerjahren von Affen durch die Wüste geführt, an Ketten und ohne dass er mehr getragen hätte als Unterhosen. Im wirklichen Leben ist er ein reaktionärer Waffennarr; aber er gehört auch – zumindest in den USA – zur Ikonografie subkultureller Bewegungen.
Dass „Madagascar“ trotzdem den Aberwitz der frühen Folgen der „Planet der Affen“-Serie nicht erreicht, hat mit dem Hauptpersonal zu tun. Das ist dann doch etwas zu sehr aus dem New Yorker Leben gegriffen. Allerdings liegt der Wahl von vier Hauptdarstellern aus unterschiedlichen Tiergattungen eine dramaturgische Entscheidung zugrunde, die den Film von vergleichbaren aktuellen Produktionen abhebt.
In „Shrek“, ebenfalls einer Produktion von Dreamworks Pictures, ist das Thema wahrscheinlich bis in Fortsetzung Nummer 7das Selbst. Im Korallenriff-Fischfilm „Findet Nemo“ ist es die Kleinfamilie. Wenn man berücksichtigt, dass die Kleinfamilie bis heute das mehr oder weniger ausgesprochene „natürliche“ Vorbild fast jeden Tier- und Dokumentarfilmers ist, bekommt die Entscheidung, in „Madagascar“ ganz auf die Organisationsform Kleinfamilie zu verzichten, Bedeutung. Aber was tritt an die Stelle der Familie?
Zuerst die große Zahl. Das wird schon in den Anfangsszenen deutlich. New York ist nicht unbedingt schlecht, aber ziemlich voll. Wenn es einen technischen Fortschritt im Animationsfilm gibt, dann ist es die Art, wie er mittlerweile Massenszenen arrangieren kann. Das New York in „Madagascar“ – man sollte es nicht mit dem realen New York der Post-Giuliani-Ära verwechseln – wirkt etwas eng, manchmal auch klaustrophobisch. Trotzdem sind die Menschen im Zoo, auf den Straßen oder an der U-Bahn-Station nicht bedrohlich. Selbst dann nicht, wenn die vier aus dem Zoo ausgebrochenen Helden um das Zebra Marty narkotisiert und eingefangen werden. Was den vier Tieren fehlt, merkt man erst zum Ende des Films, auf Madagaskar. Über New York scheint keine Sonne und kein Mond, das macht die Stadt ein bisschen grau. Gottverlassen könnte man dazu sagen. Und aus der Mitte dieser Zivilisation, aus dem Central Park, werden nun vier Produkte dieser Verhältnisse auf Umwegen und unfreiwillig nach Madagaskar verfrachtet.
Das sind der Löwe Alex, im Original von Ben Stiller gesprochen und in der deutschen Version von Jan Josef Liefers tatsächlich kongenial gegeben, der Typ, der alles im Griff hat, solange alles glatt geht. Nur wenn Probleme auftreten, gerät Alex ins Schwimmen. Für solche Situationen hat er seinen Freund Marty, das großmäulige Zebra. Immer schnell mit einem Plan, einer Antwort bei der Hand, nur leider in der Krise. Marty ist gerade zehn geworden, das halbe Leben ist um und immer nur Zoo, das kann es nicht gewesen sein. Ergänzt wird die sozusagen „natürlichen“ Konfliktstoff bergende Freundschaft von Löwe und Zebra – jedes Kind weiß schließlich, dass Löwen in der Serengeti manchmal Zebras fressen – durch zwei aus dieser Nahrungskette schon wegen ihrer Größe herausfallende Tiere. Die Giraffe Melman, die klassische New Yorker Neurose, die gern zum Tierarzt geht und ein Wehwehchen unter Anleitung des Arztes mit dem nächsten heilt. Und das Flusspferd Gloria, die Quotenfrau des Films. Wenn man etwas kritisieren will, dann ist sie der Problemcharakter der Geschichte. Gloria soll nämlich die New Yorker Diva geben. Nun neigen Flusspferde ja von Natur aus zur Fülligkeit, und eine dicke Fettschicht widerspricht auch in New York der den Diven zugeschriebenen verzärtelten Eleganz. Man merkt besonders im amerikanischen Original an der Stimme von Jada Pinkett Smith, wie sehr man sich bei Dreamworks darüber den Kopf zerbrochen hat, um diesen Widerspruch aus Fülle und Eleganz aufzulösen, sodass er nicht weiter auffällt. Der Versuch muss als misslungen gelten.
Gloria ist die einzige Figur in dem Ensemble von New Yorker Charakteren, die ohne V-Effekt bleibt. Gloria ist so vernünftig, sie arbeitet so sehr gegen die prinzipiell gefährdeten anderen, die jeden Moment den Pinguinen hinterherfahren könnten, weil sie den Unterschied von Dschungel und Eismeer in diesem Leben sowieso nicht mehr hinkriegen, dass man im Kino ständig Angst hat, Condoleezza Rice könne gleich reinkommen und ein Machtwort sprechen.
Diese vier jedenfalls landen im zweiten Teil des Films in Madagaskar. Und mit ihnen kann man erleben, was in New York fehlte. Über Madagaskar leuchtet ein Mond, und tagsüber scheint die Sonne, und der ganze wilde Dschungel mit seinen Pflanzen und Tieren ist andauernd in Bewegung. Den Dschungel darf man aber auch nicht mit dem wirklichen Dschungel verwechseln. Er sieht eher aus wie auf den Bildern des Malers Henry Rousseau. Und das ist Absicht. Rousseau nämlich, sagen sie bei Dreamworks, habe den Vorteil, selbst nie im Dschungel gewesen zu sein. So wird es auch ganz selbstverständlich möglich, dass der Dschungel in „Madagascar“ neben den Bewegungen und Farben der Pflanzen auch eine große Party ist. Eine ausgelassene Lemurenparty, wie die auf Madagaskar ansässigen Halbaffen heißen, die zwar von einem Affenkönig angeheizt wird, der Vortänzer und Entertainer in einem ist, aber ansonsten eher darauf verweist, dass man die Jungs hier im Dschungel mal machen lässt.
Das dämmert auch den vieren, und damit wird der Film nicht nur zu einem Dokument der Verheerungen, die das Scheitern der amerikanischen Revolution in den amerikanischen Seelen angerichtet hat, er deutet auch leise an, dass die Vorstellung von Natur, auf die man uns immer verweist und die uns angeblich zu einem Teil außerhalb der Zivilisation gefangen hält, doch eventuell nur eine schlechte Gewohnheit ist.
„Madagascar“. Regie: Eric Darnell, Tom McGrath, Animationsfilm, USA 2004, 86 Minuten
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