: Den Laptop an und alle Fragen offen
Online-Theater produziert nach wie vor Phantomschmerzen. Im deutschlandweiten Verbund „Theater und Netz“ mischt das Staatstheater Braunschweig jetzt mit, um physische Bühne und elektronische Präsenz miteinander zu versöhnen
Von Jens Fischer
Von einem Transformationsprozess oder Kulturwandel wird gesprochen, gemeint sind digital arbeitende Maschinen, die zunehmend nicht nur Arbeits- und Produktionsabläufe bestimmen, sondern auch vom morgendlichen Weckerton bis zum letzten Messenger-Handy-Check vorm Einschlafen das persönliche Leben. Derzeit funktioniert die Pandemie als Katalysator der Verlagerung von Politik und Wirtschaft, Sport, Kultur und Freizeitgestaltung ins Netz. Analogen Widerstand leisteten bis zum zweiten Lockdown noch einige unbeugsame Theatermenschen mit dem geliebten Anachronismus ihrer Kunst. Das hielten sie für heldenhaft.
Lächerlich fanden das jene, für die Theater im 21. Jahrhundert gar nicht mehr anders vorstellbar ist, als die Optionen der Digitalisierung für künstlerische Prozesse zu nutzen und Zuschauer auch über das Internet in ein Live-Ereignis zu involvieren. Ließen sich so doch Digital Natives als Publikum der Zukunft auch über das regionale Einzugsgebiet hinaus akquirieren.
In Norddeutschland erweist sich das Thema „Theater und Netz“ allerdings bis heute noch nicht als große Liebesgeschichte, eher als Zweckehe, da in den bereits 14 vermaledeiten Coronamonaten ohne Internet kaum Kontakt zum Publikum möglich war. Viele Bühnen realisierten bisher eher notdürftig wirkende Angebote. Das Fremdeln mit virtuellen Spielräumen wird aber zunehmend von Neugier abgelöst. Besonders positiv fielen das sehr netzaffine Theater Osnabrück und das Staatstheater Hannover auf, das umfangreich mit Online-Formaten experimentiert, sich dabei professionalisiert und in dafür notwendige Hightech investiert hat. Es ist derzeit Norddeutschlands führende digitale Bühne.
Die Anforderungen und Möglichkeiten der computer- und webbasierten Technik nicht nur hinzunehmen und zu bedienen, sondern selbst die Entwicklung zu gestalten, das will auch das neu gegründete „Netzwerk für Digitalität am Theater“, ein Zusammenschluss von 15 Bühnen aus Deutschland und Österreich. Aber nicht Osnabrück oder Hannover – das Staatstheater Braunschweig ist ins Netzwerk eingewoben.
Ursula Thinnes, Schauspieldirektorin Staatstheater Braunschweig
„Wir sind zwar nicht das supertolle digitale Theater, aber wir wurden angesprochen und finden es wichtig, nicht in Konkurrenz zu agieren, sondern voneinander zu profitieren, also Erfolge, Expertisen, Ressourcen mit anderen Häusern auszutauschen, dafür steht das Netzwerk“, sagt Schauspieldirektorin Ursula Thinnes. Und sie erzählt von einem Know-how-Schub in ihrem Haus – dank Corona: „Sich vor einem Jahr hier zu einer Videokonferenz zu treffen, war heikel, weil nicht jeder wusste, wie das funktioniert, es fehlte auch mal der richtige Rechner oder das leistungsstarke Internet, heute sind nicht nur Online-Meetings unser Alltag, die digitale Lernkurve geht nach rasant oben.“ Ebenso der Wille, eine digitale Bühne mehr sein zu lassen als eine Mediathek voller gestreamter Aufführungen.
Während die einen als notwendige Bedingung für Theater weiterhin einen physischen Ort ansehen, visionieren andere ein Cybertheater, in das sich das Publikum global einloggen und aktiv als Performer oder passiv als Beobachter teilnehmen kann, Darsteller schalten sich auf Stichwort zu. Wann, wenn nicht jetzt in der Theater-Lockdown-Krisenzeit ist ein idealer Zeitpunkt, eine solch kontaktlose Aufführung für selbstisolierte Menschen vor ihren Monitoren, Displays und Bildschirmen daheim zu kreieren, ja, dramatische Kunst komplett als interaktives Computerspiel anzubieten.
Begriffe wie Raum und Zeit sind dabei neu zu denken, da die Körper der Schauspiel- und Zuschaukünstler an unterschiedlichen Orten und ihre Kommunikation, Handlungen und deren Folgen davon völlig unabhängig sind. Ungeklärt ist die Frage, welcher Mehrwert den erzählten Geschichten hinzugewonnen werden kann – wenn beispielsweise Ibsens „Nora“-Dialoge am Schauspielhaus Zürich nur als Textnachrichten auf dem Handy aufblitzen; oder Regisseur Kay Voges per glasfaseriger Standleitung Schauspielende in Berlin und Dortmund gleichzeitig und gemeinsam ein Stück aufführen lässt.
Initiatoren des nun bis Braunschweig reichenden Netzwerkes sind das Staatstheater Augsburg, das mit Inszenierungen für VR-Brillen bundesweit Pionierarbeit geleistet hat, und die sechste Sparte des Dortmunder Theaters, die im Frühjahr 2019 von Kay Voges gegründete Akademie für Theater und Digitalität. Dort forschen Stipendiaten an der Verbindung zwischen darstellender Kunst und digitalen Technologien – vor allem an Bühnen-, Licht-, Ton-, Übertragungs-, Audiodeskriptions- und Bildgestaltungstechnik. Die Obermaschinerie im Schürboden mit einer Augmented-Reality-Brille überprüfen, Bauproben mit der VR-Technologie gestalten, sind so Beispiele. Nicht prioritär erkundet wird, was etwa von Netflix, Instagram, Computerspielen oder Youtube-Clips für die Dramaturgie digitalen Erzählens zu lernen ist. Da sind die Theater selbst gefragt.
„Wir befinden uns in einer spielerischen Forschungsphase“, sagt Thinnes, „die Sehnsucht nach Innovation“ sei in Braunschweig groß, „die Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen ja Pflicht“. Auch wenn der eigene Weg bisher ein rückwärtsgewandter war. Die Raumbühne Aquarium wurde 2020 zum Analogicum erklärt, dort sollte über Vernetzung, Big Data, Gig Economy, Smart Cities, KI et cetera nachgedacht werden. „Damit wir diesen Diskurs mit möglichst wenig Heuchelei bestreiten, räumen wir diese ganze digitale Realität aus dem Aquarium und suchen nach analogen Träumen – und nach Möglichkeiten, Theater, Konzerte, Installationen, Kunst von und mit Hand und Bordmitteln zu machen.“ Das Staatstheater hat laut Thinnes bisher auch nicht groß in technische Ertüchtigung investiert, die Videoabteilung ist weiterhin nur mit einem Menschen besetzt.
Aber die Braunschweiger haben sich mehrmals Fachleute ins Haus geholt und sehr ansehnliche Verfilmungen von Bühnenprojekten im Theater- sowie Stadtraum kreiert. „Trotzdem habe ich immer Phantomschmerzen, wenn ich die Videos sehe“, sagt Thinnes. Das analoge Theater fehle halt und solle wieder zum Kerngeschäft werden. „Wir wollen sehr viel ausprobieren, aber aus dem Staats- kein Onlinetheater machen, digitale Angebote erweitern unsere Aktivitäten und ersetzen auch mal ein analoges Projekt, das merkt man im Spielplan 2021/22 allerdings noch nicht, weil es noch kein konkretes Netzwerk-Projekt gibt.“
Angedacht sei aber, das Schauspielhaus einzuscannen und die 3-D-Simulation als virtuellen Raum zu bespielen. Also mit Schauspieler-Avataren auf und Zuschauer-Avataren vor der Bühne – und beim Foyer-Geplauder. „Wie kann man ein kollektives Erlebnis, das für Theater typische Gefühl von Gemeinschaft auf dem zweidimensionalen Monitor herstellen“, so Thinnes, „das interessiert uns.“ Für die Interaktion reiche es ja nicht, die Chatfunktionen freizuschalten. Mit anderen Worten: In Sachen Output sind die Braunschweiger noch am Anfang, in Sachen Input nun aber formidabel vernetzt. Ergebnis offen.
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