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Rahmenvertrag EU-SchweizSingapur in den Alpen

Die Schweiz verhandelt nicht mehr mit der EU über ein Rahmenabkommen. Das freut vor allem Rechte. Einige haben dafür viel Geld investiert.

Alphörner und Steuerparadies: Die Schweizer wollen ihre Werte bewahren Foto: Polaris Images/laif

Die Schweiz und die EU bleiben auch in Zukunft durch eine enge Partnerschaft verbunden.“ Der Mann, der das am Mittwoch verkündet, ist Ignazio Cassis, Außenminister der Schweiz und bis 15.45 Uhr zuständig für die Aushandlung des Rahmenabkommens mit der Europäischen Union; bis Regierungschef Guy Parmelin mitteilte, die Schweiz werde die seit sieben Jahren laufenden Verhandlungen einseitig beenden. Seither rätselt die Schweiz, was jetzt passieren wird.

Das Land liegt mitten in Europa, von Liechtenstein abgesehen ist es von EU-Staaten umzingelt. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind eng, auch aufgrund der mehr als 100 Abkommen in nahezu allen Politikbereichen, die Bern und Brüssel in den letzten drei Jahrzehnten geschlossen haben. Der Rahmenvertrag war die Bedingung Brüssels dafür, dass bestehende Verträge angepasst und neue abgeschlossen würden. Jetzt steht das alles auf dem Spiel.

Als Bankrotterklärung der Schweizer Regierung, des Bundesrats, bezeichnet die designierte Generalsekretärin der Grünliberalen Partei, Julie Cantalou, das Aus für die Verhandlungen. Die Schweiz stehe vor einem Scherbenhaufen. Ein Erfolg sei das Aus einzig für die EU-Gegner, die zuletzt millionenschwere Unterstützung bekommen haben.

Der Schweizer Milliardär Fredy Gantner und zwei weitere Mitgründer des auf 30 Milliarden Franken Börsenwert geschätzten Vermögensverwalters Partners Group steckten Medienberichten zufolge jeweils eine halbe Million Franken in die Gründung der Allianz Kompass Europa. Ihr erklärtes Ziel: das Aus des Rahmenabkommens. Geschäftsführer Philip Erzinger lobte in der NZZ die „dezidierte Haltung“ des Bundesrats, der sich vom Lärm der Befürworter nicht habe beirren lassen.

Fragwürdige Werte

Den wirklichen Lärm machten allerdings die Gegner des Abkommens, neben Gantners Truppe auch ein Bündnis namens Autonomiesuisse, in dessen Präsidium Finanzdienstleister, Privatbankiers und Unternehmer sitzen. Cantalou erinnern diese mächtigen Anti-EU-Lobbygruppen an die Kampagne für den Brexit, die sie in Großbritannien miterlebt hat. „Das Sinnbild ist ein ‚Singapur in den Alpen‘ als Analogie zum ‚Singapur an der Themse‘, das damals von den Brexiteers vorgeschlagen wurde.“

Zwar sei die Schweizer Wirtschaft mehrheitlich sehr exportorientiert und wolle gute Beziehungen zur EU. „Es gibt da aber eine relativ kleine Minderheit, die das anders sieht, viele kommen aus der Finanzbranche.“ Die Befürworter einer deregulierten, noch steuergünstigeren Schweiz, in die das Kapital der Welt fließen kann, können nun einen Etappensieg feiern.

Feiern kann auch die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP). Mit ihren europa- und ausländerfeindlichen Kampagnen punktete sie in letzter Zeit weniger als gewohnt. Als die SVP mit ihrer „Begrenzungsinitiative“ vor einem guten halben Jahr die Personenfreizügigkeit mit der EU beenden wollte, lehnte das Schweizer Stimmvolk mit mehr als 60 Prozent ab.

Dass das Aus für das Rahmenabkommen jetzt ausgerechnet mit der Einwanderungsfrage begründet wird, ist ein Erfolg auch für SVP-Chef Marco Chiesa: „Wir haben unsere Unabhängigkeit, unsere Souveränität und unsere direkte Demokratie gerettet, das sind die fundamentalen Werte unseres Landes.“

Direkte Demokratie? Diesmal lieber nicht

Allerdings offenbar nicht so fundamental, dass die SVP die Entscheidung über das Rahmenabkommen einer Volksabstimmung überlassen hätte. Die hatten vor allem prominente Altpolitiker gefordert, Umfragen sagten ein deutliches Ja voraus. Mit seiner einsamen Entscheidung hat der Bundesrat sich jetzt vor dem Volk gerettet und auch vor den Außenpolitischen Kommissionen im Parlament, die ebenso wie die Kantone bis zuletzt aufs Weiterverhandeln gedrungen hatten.

Bundespräsident ­Parmelin nannte drei „grundlegende Dif­ferenzen“ als Grund des Scheiterns: die Unionsbürgerrichtlinie, die nicht nur Arbeitnehmenden samt Familien, sondern allen EU-Bürgern den Aufenthalt in der Schweiz erlaubt hätte; die Frage staatlicher Beihilfen; und schließlich der Schutz des hohen Schweizer Lohnniveaus.

Die Angst vor Dumpinglöhnen durch Billigkonkurrenz aus der EU hatte die Gewerkschaften mobilisiert. „Wir sind erleichtert, dass unser autonomer Lohnschutz verteidigt werden konnte“, freute sich Pierre-Yves Maillard, der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Zum Lohnschutz gehören Regelungen wie jene, nach der eine Handwerkerin aus Süddeutschland sich acht Tage vorher anmelden muss, wenn sie in der Schweiz arbeiten will.

Diese Frist zu verkürzen gehört zu den Angeboten, die der Bundesrat der EU jetzt auch ohne Rahmenabkommen machen will. Außerdem sollen 1,3 Milliarden Franken an Kohäsionszahlung an die EU gehen. Justizministerin Keller-Suter will möglichst viele Schweizer Gesetze freiwillig an EU-Regeln angleichen.

Den Schaden hat die Exportwirtschaft

Zudem soll ein Dialog auf Regierungsebene begonnen werden. Doch das ist alles noch kein Plan B. Außenminister Cassis räumte bereits ein, dass es Nachteile für die Schweiz geben werde. Das ist untertrieben. Ein Stromabkommen und der Schweizer Zugang zum EU-Forschungsprogramm „Horizon Europe“ sind in Gefahr.

Vor allem aber profitieren zwei Drittel aller Exporte von der Schweiz in die EU im Wert von 76 Milliarden Franken jährlich bisher von Marktzugangsabkommen. Für Medizinprodukte gilt das seit Mittwoch nicht mehr, weil das betreffende Abkommen nun nicht mehr aktualisiert wird. So könnten jetzt alle Verträge erodieren, der Schaden ginge in die Milliarden.

Die Aufsichtsbehörde Swissmedic verglich die Situation am Donnerstag bereits mit der Großbritanniens nach dem Brexit. Einige wenige dürfte das gefreut haben.

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5 Kommentare

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  • Einen wirksamen Milieuschutz hat die Schweiz m.E. unbedingt verdient! Auch wenn ich etlichen der in verschiedenen Volksabstimmungen zum Ausdruck gebrachten Willensbekundungen nicht zustimme ist die Schweiz für immer noch das einzige europäische Land in welchem die weitaus überwiegende Mehrheit der Einwohner ihre Politik immer selbst mitverantwortet, sie als ihr eigenes Werk begreift. Also warum nicht den Spieß umdrehen und fragen: was muss in der EU geschehen damit sie für die Schweiz anschlussfähig wird?

  • Die durch den Rahmenvertrag bedrohten, sehr hohen Löhne hier in der Schweiz sind der Hauptgrund für die Ablehnung. Hinzu kommen Ansprüche auf Sozialhilfe, die EU-Bürger derzeit nicht so bald und auch nicht unbegrenzt haben. 1-Euro-Jobs und schlecht bezahlte Leiharbeit / Zeitarbeit, wie sie in Deutschland seit Hartz IV immer üblicher geworden sind, oder gar EU-Arbeitsverträge zu rumänischen Konditionen sind für uns nicht hinnehmbar. Und durch die Einwanderung ins Sozialsystem würde die ohnehin schon massive Knappheit an bezahlbaren Wohnungen noch weiter zunehmen. In den Städten findet man heute kaum noch eine Wohnung für weniger als 1.000 Franken im Monat, Kaufpreise gehen auch erst bei 400.000 Franken los. Das soll sich nicht noch mehr verschärfen.

    • @VanessaH:

      Sie haben das gut formuliert, Vanessah.

      Habe selbst eine Weile in der Schweiz gelebt und halte die EU in ihrem imperialistischen Gebaren für total unverschämt.

      Warum muss die EU ihren Handelspartnern auch gleichzeitig ihr System überstülpen?

      Im übrigen braucht die Pleite-EU nur ein weiteres Land, das man ausquetschen kann.

      Die Schweizer haben jetzt eine Menge Schwierigkeiten, was aber weitaus besser ist, als allmählich von der EU geschluckt zu werden.

    • @VanessaH:

      M.W. ist das Lohnniveau gemessen an den Lebenshaltungskosten (inkl. Miete, Versicherungen usw.) niedriger als in Deutschland. Verstärkte Billiglohnkonkurrenz wäre daher v. a. für Geringqualifizierte allerdings ein Problem.



      Gleichzeitig ist die Vermögensungleichheit noch höher als in Deutschland, wird aber in der Schweiz, meinem Eindruck nach, noch weniger thematisiert.

    • @VanessaH:

      Was hat die



      "Einwanderung ins Sozialsystem"



      mit der



      "Knappheit an bezahlbaren Wohnungen"



      zu tun?