: Den Rückzug im Blick
Eigentlich wollte die Choreografin Patricia Carolin Mai 17 Menschen in einem Museum tanzen lassen – aber das gemeinsame Proben fiel der Pandemie zum Opfer. Stattdessen entstand ein Film voller Ruhe und Sehnsucht
Von Katrin Ullmann
Eigentlich hatte Patricia Carolin Mai mit ihrer Langzeitrecherche über Körper in Extremzuständen abgeschlossen. Eigentlich wollte die Hamburger Choreografin ihren Blick nun auf die kulturellen Zu- und Einschreibungen menschlicher Körper richten: Wollte den klassischen Bühnenraum verlassen und in einen neuen Raum eintauchen: Im MARKK – dem Hamburger Museum für Kulturen und Künste der Welt – plante sie sich mit der Geschichte exponierter Körper auseinanderzusetzen, mit dem Körper im musealen Raum, und das im Bezug auf die dort ausgestellten, menschlichen Überlassenschaften. Eigentlich. Doch der Extremzustand der Pandemie nahm kein Ende.
Und so war sie für den Trilogie-Auftakt „Wahn“ – folgen werden „Lust“ und „Rausch“ – gezwungen, das Thema Raum selbst neu zu denken. Denn nach nur wenigen Proben im Museum mussten diese per Zoom stattfinden. Was aber bleibt von einem sich bewegenden Körper, wenn er sich nicht mehr auf einen öffentlichen Raum und auf andere Körper bezieht? Wenn er nicht mehr auf sie zugeht, sich ihnen nicht mehr aussetzt?
Fragen wie diese bildeten den Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit von 17 Menschen zwischen 20 und 85 Jahren, Menschen ohne akademische Tanzausbildung; Menschen, mit denen Mai bereits 2019 für ihr Gruppenstück „Hamonim“ zusammengearbeitet hatte. Immer wieder spürte die Chreografin nun, während des insgesamt achtmonatigen, intensiven Probenprozesses, „wie viel Frustration, wie viel Technik, wie viel Bild und Überforderung in diesem virtuellen Zusammenkommen drinsteckt. Um dann aber auch zu sagen: Okay, was haben wir gerade trotzdem?“
Mai suchte nach alternativen Möglichkeiten des Zusammenkommens neben den Zoom-Proben: Sie ließ die Teilnehmenden regelmäßig zu zweit Gehen, oder telefonieren. Sie legte kollektives Bewegungsmaterial fest, arbeitete auch mit Audioaufzeichnungen: von Gesprächen, von laut ausgesprochenen Gedanken und vom Atem.
Entstanden ist ein Film von und mit tanzbegeisterten Menschen, die den Blick auf ihren pandemiebedingten Rückzug richten. „Die 17-fache Erinnerung an Körper aus vergangen Menschenmengen“, heißt es im Vorspann: Es ist ein melancholischer Film geworden, und doch kein trauriger. In ruhigen Kameraeinstellungen erzählt er von der Vereinzelung – und zugleich von der Gemeinschaft.
„Wenn ich jetzt auf die Bühne gehen würde, worüber würde ich tanzen?“, fragt zu Anfang eine Stimme aus dem Off. „Ich würde langsam auf die Bühne gehen. Ich würde mir vorstellen, wie die anderen vor mir in diesem Raum waren und sich bewegt haben … Mit ihren Bewegungen würde ich einen Dialog führen. Ich würde mich erinnern und einen Platz darin finden.“ Eine Frau tritt vor den weißen Plafond, wiegt sich sanft hin und her. In der nächsten Einstellung sieht man eine andere Frau mit derselben Abfolge, dann nimmt ein Mann die Bewegungen auf. Als übereinander gelegte Projektionen werden sie bald zu einer Reihe Tanzender.
In einer nächsten Szene erkundet ein Paar Füße in weißen Socken die Bühne. Ein anderes Paar Füße macht große und doch vorsichtige Schritte. Später sieht man Hände, die tasten, kreisen, suchen. Mit großer Vorsicht erkunden sie den Bühnenraum. Erst nach und nach werden die Bewegungen dynamischer, sicherer, raumgreifender. Trunken fallen die Tänzer*innen rückwärts, boxen wild in die Luft, übernehmen die Bewegungen der Vorgänger*in.
Sie alle wirken verloren ohne Gemeinschaft und werden doch von ihr gehalten. In kleinen Bewegungen, Zeichen und Gesten nehmen die Tanzenden aufeinander Bezug. Später auch mit einem Stück grob gestrickter Wolle, das immer wieder in den Szene auftaucht: Mal dient es als Kissen, mal als Schal, mal als Pullover – immer aber verweist es auf die anderen, die eigentlich Abwesenden.
Es ist ein ruhiger, mit seinen Leerstellen still erzählender und sehr atmosphärischer Film, strukturiert und doch intuitiv. Die vorsichtige Kameraführung – videografische Konzeption, Director of Photography, Editing: David Czinczoll – kommt den Darsteller*innen immer wieder sehr nahe, kreiert absichtliche Unschärfen. Behutsam geschnitten, wirken selbst die Wechsel von der Totalen zur Nahaufnahme unglaublich sanft. In kurzen Texten aus dem Off erzählen die Mitwirkenden von der Sehnsucht nach Nähe, Menge und Zusammensein; von einem Tanz, den sie gern tanzen würden.
Und plötzlich sind da Tänzer*innen, ihre Projektionen und die Projektionen der Projektionen: Sie erscheinen hinter- und übereinander, quasi miteinander im Raum. Am Schluss der ungefähr 30 Minuten erzählt wieder eine Stimme davon, wie es wäre, wenn alle zusammen im selben Raum wären: „Man ist super, super vorsichtig miteinander. Man versucht, nicht zu überwältigen. Einfach nur da zu sein und zu spüren. Fast wie so zwei, die sich gerade frisch verlieben. Na ja und von da aus geht dann alles weiter, wie es weitergeht.“ Hoffnungsvoller kann ein Ende kaum sein.
Wahn als Stream: 4.–6. 5. + 8.–13. 6., www.kampnagel.de
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