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Liebendes Gespenst

Immer diese Ungewissheit: In Martin Lechners Roman „Der Irrweg“ reibt sich die Handlung mit einer unnötig verunklarten Form

Von Hagen Gersie

Viele Menschen sind sich ungewiss. Darüber, welche Ausbildung sie nach der Schule machen oder was sie studieren wollen. Darüber, was sie zum Abendessen möchten oder ob die aktuelle Beziehung eine von Dauer ist. Manchmal sind dann auch noch die Wege, die eigentlich bei der Entscheidung helfen sollen, ungewiss und vage.

Mit solcher Ungewissheit schlägt sich der Schulunterbrecher Lars in Martin Lechners neuem Roman „Der Irrweg“ herum. Wie schon in dessen Debüt „Kleine Kassa“ – 2014 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis – ist die Handlung in einem fiktionalisierten Lüneburg angesiedelt, diesmal Linderstedt genannt. Der Autor, 1974 geboren, ist selbst in der Heide aufgewachsen. Inzwischen lebt er in Berlin.

Lars also absolviert Zivildienst in einer psychiatrischen Einrichtung, bevor er ans Gymnasium zurückkehren will. Einer der Gründe, warum er die Schule unterbrochen hat, war das beschämende öffentliche Auftreten seiner alkoholkranken Mutter, das gefilmt und vielfach geteilt worden war. In der Hoffnung, dass Gras über die Sache wachsen würde, ist er also für ein Jahr zum Pflegen in die Psychiatrie gegangen. Und damit nicht nur der Schule entflohen, sondern auch der Mutter, um die er sich zuvor fast wie um ein Kind hatte kümmern müssen. Einen Vater gibt es nicht.

In der Einrichtung lernt Lars die Insassin Hedwig kennen, die als „Geschenk“ erst mal das Auto seines Chefs anzündet. Es entspinnt sich eine absonderliche Art von Liebesgeschichte, in der nicht immer klar ist, wer von beiden eigentlich psychisch beeinträchtigt ist.

Lars, geplagt von Mutter, Mit­schü­le­r:in­nen und großen Unsicherheiten, wird nie richtig greifbar. Wie ein Gespenst wandelt er durch die Geschichte, Text und Hauptfigur sind von Unentschiedenheit und Ungewissheit gezeichnet. Das liegt auch an der zunehmend verwirrenden Erzählperspektive: Meistens ist sie nah an Lars dran, gibt in der dritten Person seine Gedanken, Gefühle und Träume wieder. Aber immer wieder meldet sich eine andere Stimme, kommentiert Lars’ Handlungen oder deutet kommende Ereignisse an – und manchmal werden die Le­se­r:in­nen direkt angesprochen.

Diese Perspektivwechsel machen es schwer zu verstehen, ob Lars selbst etwas einordnet oder eine übergeordnete Instanz spricht. Die Andeutungen sorgen auch nicht für mehr Spannung, und die ironisch-moralischen Erhebungen sind mitunter nervtötende Interpretationsanleitungen: „Wer hofft, dass sich Lars im Schlaf von den einweisungsreifen Anwandlungen, die ihn abends im Bad befallen hatte, befreit hätte, wird enttäuscht werden.“ Hinzu kommt: Lechner schreibt gerne sehr, sehr lange Sätze. Es ist ein eigenwilliger, auch schwerfälliger Stil, nur ab und an von klaren Spracheinfällen durchbrochen.

Ein sehr spannender Aspekt kommt leider zu spät – und zu kurz: der Klassenkonflikt. Lars ist der Sohn einer alleinerziehenden, alkoholkranken Altenpflegerin, der nach der Realschule aufs Gymnasium kam. Von der Schulleiterin und den Mit­schü­le­r:in­nen erfährt er ständige Herabsetzungen. In einem der besseren Kapitel ist Lars zu einem „Gartentrunk“ in die Villa eines Mitschülers eingeladen. Dieser versucht ihn davon zu überzeugen, dass Luxus Trotz und Widerstand sei. „‚Ach, damit ist es nicht weit her bei uns‘, meinte Lars, der Luxus bloß als Mittel zur Erniedrigung der Mittellosen kannte, ‚wir haben nicht so viel Geld.‘“ Im Vergleich zur sonst vorherrschenden Verklausulierung ist das erfrischend klar.

Am meisten irrt „Der Irrweg“, indem er so unspezifisch bleibt: Warum spielt die Handlung in einer 1-zu-1-Kopie Lüneburgs statt einfach dort? Und wann? Alles deutet auf die Gegenwart hin, aber Zivildienst gibt es in Deutschland seit 2011 nicht mehr. Die Figuren bleiben meist vage, so wie Lars’Absichten; alles passiert irgendwie einfach. Es wirkt, als habe Lechner eine Geschichte schreiben wollen, die übers Hier und Jetzt hinausweist – und dabei passiert es ihm, dass sie schließlich herumwabert, überall und nirgends.

Martin Lechner: Der Irrweg. Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2021, 272 S. 24 Euro; E-Book 16,99 Euro

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