Volkseigene Betriebsamkeit

Bilder der Gemeinschaft, Bilder der Schande: Das Fotobuch „Röhren aus Schöneweide“ mit Dokumenten zur Fernsehelektronik in der DDR ist auch eine Chronik der Arbeit

Schönheit der Technik: Mann und Frau beim Aufrichten der Antenne des Feldstärkenmessers FSM auf freiem Feld, August 1958 Foto: © Industriesalon Schöneweide

Von Peter Funken

Die Geschichte beginnt 1890 im Kaiserreich. Damals entstand im Südosten Berlins nahe der Spree im heutigen Oberschöneweide ein Industriegebiet. Triebkraft dafür war die gerade erst gegründete AEG: Zuerst entstand eine Fabrik für Akkumulatoren, dann das Kabelwerk Oberspree (KWO) und eine Fabrik für Elektro-Automobile. 1921 kam ein Transformatorenwerk (TRO) hinzu. Oberschöneweide wurde zu einem der größten Standorte für Elektrotechnik in Europa. Ab 1938 fertigte man moderne Elektronenröhren, das war die Keimzelle für das spätere Werk für Fernsehelektronik (WF). Das Ende des Zweiten Weltkriegs – Oberschöneweide lag nun im sowjetischen Sektor – bedeutete auch das Ende für die AEG in Berlin, nicht aber für die Herstellung von Elektrotechnik, denn im Osten der Stadt sollte Schöneweide mit den großen Werken TRO, KWO und WF noch lange das Zentrum für elektrotechnische Produkte sein.

Davon und von viel mehr handelt ein Fotobuch, das mit annähernd 200 Abbildungen die DDR-Röhrenproduktion seit den 1950er Jahren bis zur Schließung vom Werk für Fernsehelektronik 1993 dokumentiert. Ausgehend von dem immensen Fotoarchiv zur Werksgeschichte, das mit seinen 25.000 Abzügen und Negativen im „Industriesalon Schöneweide“ untergebracht ist, zeigen Albert Markert und Steffen Wedepohl mit einer Auswahl von circa 200 Fotos anschaulich eine Chronik der Arbeit und ihrer Bedingungen. Das Fotoarchiv besteht vor allem aus Schwarz-Weiß-Bildern, die Joachim Köhler, Werksfotograf und Leiter der Fotostelle, seit 1945 zusammen mit Kollegen herstellte. Erst in den frühen 1970er Jahren finden sich vermehrt Farbfotos – kaum überraschend, war es doch die Zeit, in der Farbe in der Fotografie und beim Fernsehen zum Standard wurde.

Der größte Teil des Archivs besteht aus Technikaufnahmen. Um aber das Fotobuch lebendig und unterhaltsam zu machen, wurde darin dem Mikrokosmos vom Werk für Fernsehelektronik viel Platz gegeben: Bilder von Weihnachtsfeiern, werkseigenen Einrichtungen wie Bibliothek, Jugend- und Sportclub, FDJ-Bar, Werkszeitung, Kita, Schneiderei, Gesundheitswesen und Feriendomizil zeigen all das, was ein großer Volkseigener Betrieb den 9.000 Werktätigen bot.

Das Bildmaterial besitzt den Reiz hochprofessioneller Schwarz-Weiß-Fotografie, überall überzeugende Kompositionen, hohe Tiefenschärfe und vielfältige Abstufungen bei Grauwerten.

Großes Thema war der Mensch bei der Arbeit. Da es um komplizierte Elektrotechnik ging, war es nötig, fotografisch diese Arbeit als komplexen Vorgang zu dokumentieren, von vielen und Einzelnen, die mit Material und Maschinen in exakten Abläufen Präzisionsprodukte herstellen: TV-Röhren, Transistoren, auch eine elektrische Orgel oder Nach­richtentechnik für militärische Auftraggeber entstehen.

Bei dem, was wir leichthin Dokumentarfotografie nennen, geht es stets um die Inszenierung von Realität, und so wird im Fotobuch die Arbeit als gemeinsames Ziel inszeniert, im Sinne der gesellschaftlichen Idee in der DDR. Das bedeutet hier, Widersprüche werden ausgeblendet. Die Fotos, besonders jene der frühen Werks­phase, ­besitzen oft etwas unsentimental Anrührendes, denn sie zeigen die menschliche Nähe der Arbeitenden zueinander und natürlich auch zu den Dingen, die sie konzentriert herstellen. Die Darstellung von Hingabe, sogar Wärme der arbeitenden Menschen untereinander macht das Besondere solcher Bild-­Inszenierungen aus; damit entsteht die Vorstellung einer Arbeitsatmosphäre, in der Kollegiales und die Betonung der Gemeinschaft viel ausgeprägter war als in der Gegenwart.

Böse ausgestellt: Werkmitarbeiter mit Gumminase. Die war als Strafe gedacht, das Foto erschien in der Betriebszeitung Foto: © Industriesalon Schöneweide

Aber Vorsicht, hier liegen vergiftete Äpfel auf dem Tisch, denn wir wissen, dass die ostdeutsche Republik auch Überwachungsstaat war, dass die durchorganisierte Jugend und das gesellschaftliche Gemeinschaftsgefühl nichts anderes erschaffen hat als eine etwas bessere Volksgemeinschaft, in der arbeitenden Aus­län­de­r*in­nen kein gutes Leben gegönnt wurde.

Machen wir uns nichts vor, der Fotostelle samt der Zeitschrift WF-Sender ging es um ein geschöntes Selbstbild des sozialistischen Staates. Wer nicht mitmachte, wem es zu spießig war, war draußen.

An einem Beispiel zeigt das Buch, dass in dem Werk auch noch ein anderer Geist herrschte: Es sind Fotos, die einen Mann und eine Frau mit spitzer, roter Gumminase und falschem Schnauzer zeigen. Die „Rote Nase“ war als Strafe gedacht für Werktätige der Grundeinheiten der FDJ, die im Wettbewerb zu den V. Weltfestspielen in Warschau 1955 nicht aktiv genug Spenden und Mitglieder eingeworben hatten. Das Bild des Mannes wurde in der Betriebszeitschrift WF-Sender am 27. Juli 1955 veröffentlicht, das der Frau nicht. Offensichtlich hatte man die Fotos im Voraus geschossen, um sie bei Bedarf verwenden zu können.

Albert Markert und Steffen Wedepohl: „Röhren aus Schöneweide. Fernsehelektronik für die Republik“. 128 S., Sutton Verlag 2020, 20 Euro