Wissenschaftsfilm als großes Kino: Geduld, Genauigkeit, Handwerk
Das Sensory Ethnography Lab der Harvard University vermittelt interdisziplinär zwischen Wissenschaft und Kunst. Jetzt ist es Gast des Arsenal.
Als 2009 „Sweetgrass“ im Forum der Berlinale lief, war das nicht nur für Schaf-Afficionados eine Offenbarung. Der Dokumentarfilm aus dem rauen Alltag einer Schäfer-Großfamilie im Nordwesten der USA ist in seiner Wirkung ganz großes Kino, tritt aber jeder Anmutung von Opulenz mit Verknappung der ästhetischen Mittel entgegen.
Statt Drohnenflügen über die Landschaft gibt es lange Totalen und Naheinstellungen auf die Tiere und die wenig romantische Arbeit. Statt Begleitmusik Wind, die omnipräsenten vielfältigen Lautäußerungen der riesigen Herde und das Rufen und Fluchen der Sheepboys und -girls, die die Tiere 150 Kilometer durch Montana zur Sommerweide in die Rocky Mountains treiben.
Dabei ist die Schönheit ebenso präsent wie Härte und Gefahr der Arbeit. Gegründet ist die Intensität des sinnlichen filmischen Erlebens in Geduld, Genauigkeit, Handwerk und dem jeweiligen Projekt intelligent angepassten technischen und künstlerischen Verfahrens. Gedreht wurde nach mehrjähriger Recherche in drei Jahren mit einer analogen 35-Millimeter-Kamera, die einzelnen Beteiligten wurden mit Ansteck-Mikrofonen verstöpselt, um auch in den Bart genuschelte Bemerkungen für den Soundtrack einzufangen.
Die Menschen hinter dem Film sind Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor, die neben ihrer dokumentarischen Arbeit auch feste Stellen als Kuratorin und Professor für Anthropologie an der Harvard University haben. Besser gesagt, mit dieser Arbeit. Denn das Programm des von den beiden 2006 in Harvard gegründeten Sensory Ethnography Lab zielt genau auf solch interdisziplinäre Vermittlung zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Praktiken und Formen.
Sehen und sinnliche Erfahrung verschmelzen
Auch sonst werden im SEL Grenzen überschritten, etwa indem die Forschenden sich zum Teil des Erforschten machen und dabei, der Begriff „sensory“ deutet es an, das Sehen mit anderen Arten sinnlicher Erfahrung verschmelzen lassen. Statt als beobachtende fly-on-the-wall (wie im klassischen Dokumentarfilm) geraten die Filmenden und ihre Instrumente mitten in das oft bewegte Geschehen.
Bis 31. März, Anmeldung: www.arsenal-3-berlin.de, Nutzung 11 Euro pro Monat
Drastisch ist das in „Leviathan“ (2012, Regie: Castaing-Taylor und Verena Paravel), wo gleich ein Dutzend Minisportkameras an verschiedenen Stellen eines im nächtlichen Atlantik fischenden Trawlers angebracht sind und spektakuläre Ansichten bieten, wenn sie mit dem Netz ins Meer gehen oder im stampfenden Seegang zwischen den verendenden Fischkörpern auf Deck hin und her schwappen.
Wie in „Sweetgrass“ ist auch das ein Versuch, durch experimentelle künstlerisch-technische Mittel die anthropozentrische Perspektive der meisten Dokumentarfilme ins Offene zu erweitern. SEL-Studioleiter und Audio-Künstler Ernst Karel hat dazu aus den Originaltönen der Kameramikrofone einen raffinierten Soundtrack entwickelt.
Auffällig viele der Lab-Filme sind Hommage an und Erforschung von verschwindenden oder schon ausgestorbenen Lebens- und Wirtschaftsformen. Die traditionelle Schafstrift in „Sweetgrass“ war die letzte dieser Menschen an diesem Ort. „Foreign Parts“ (2010, Verena Paravel und J.P. Sniadecki) begibt sich auf das weitläufige Gelände eines quirligen New Yorker Autoteil-Schrotthandels in Queens, dessen baldiger Untergang durch Gentrifizierung schon besiegelt ist. Und selbst die mit schwerem Gerät betriebene Fischerei in „Leviathan“ hat angesichts neuer Hightech-Fischfabriken einen frühindustriell antiquierten Touch.
Große Zeit als Erdölort und jetzt Ruine
Auch „Yumen“ (2013) hat einen elegischen Ton, das gleichnamige Städtchen in Nordwestchina hatte große Zeiten als Erdölort in der frühen VR. Doch die neuen Bilder erinnern mit ihren Ruinen von Läden und Fabriken eher an das verlassene Pripjat – mit Wüste drumherum. J.P. Sniadecki hat – auch das eine Grenzüberschreitung – gleichberechtigt mit den chinesischen Künstlern Xu Ruotao und Huang Xiang zusammengearbeitet.
Die Fülle an kulturellen und historischen Bezügen dieser Collage aus Topografie, performativen Intermezzi, 16-mm-Wehmut und chinesischer Musik diverser Genres kann ein nichtkundiges Publikum nur erahnen.
Die Präsentationsformen des SEL reichen vom Kunstkontext über Filmfestivals bis zu Audioarbeiten in limitierter CD-Edition. Sechs Filme, von denen viele in Forum und Forum Expanded ihre Uraufführung hatten, sind im März im digitalen Angebot des Arsenal 3 zu sehen.
Nur der jüngste von ihnen ist weniger für das Home Viewing geeignet, wenn man/frau nicht gerne eine Stunde lang sein eigenes Spiegelbild auf dem Bildschirm betrachtet. Momente intensiver Dunkelheit spielen in vielen Lab-Filmen eine starke Rolle, doch „somniloquies“ (2017, Castaing-Taylor und Paravel) spielt zu zwei Dritteln fast komplett im Dunkeln. So etwas gehört in die echte Kino-Blackbox.
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