Geschmack in der Coronapandemie: Hauptsache salzig und fettig
Das mit der Distinktion mittels Haushaltswaren oder Essen scheint seit Corona nicht mehr wichtig zu sein. Billigfraß macht satt und glücklich.
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D ie grummeligste Person, die ich kenne, hatte plötzlich Herzchen an einer Stelle, wo ich es nie erwartet hätte: Nach dem zweiten Feierabendbier besuchte ich die dunkle, von Waschmaschine und seit Jahren nicht mehr abgestaubten Regalen zugestellte Toilette und versuchte, es mir dort gemütlich zu machen. Als ich nach dem Klopapier griff, strahlten mir freundliche rote Herzen entgegen, die in diesem Kabuff sofort ein Lächeln auf mein Gesicht zauberten.
Ging es Ihnen auch schon so, dass Sie in den letzten Monaten bei Freunden Haushaltswaren fanden, die sie der Ihnen bereits lange bekannten Persönlichkeit des Bewohners nicht zuordnen konnten? Man sagt ja, eine harte Schale habe einen weichen Kern. Und mittlerweile hege ich den Verdacht, dass inzwischen vielleicht einige Leute ihren Hang zu Kitsch deshalb ausleben konnten, weil sie bei fragenden Blicken ihrer Besucher immer die Ausrede hatten, dass es nun mal kein anderes Papier mehr gab. So auch mein grummeliger Freund. Ich gönne mir den Gedanken, dass er lügt, denn ich bin mir sicher, dass er im Alter sanfter wird.
Ich weiß, es gibt immer Alternativen, und ich weiß mir auch zu helfen, wenn ich dem Toilettenpapier mit Kamilleparfum, das ich im letzten Text bereits beklagte, entgehen will. Ich neige dazu, lieber eine Küchenrolle in der Mitte mit dem schärfsten Küchenmesser durchzusägen, statt eine Packung mit Bärchen und Herzchen zu kaufen. Aber ich möchte nicht zu spitzfindig sein und überlasse meinen Kumpel seinen eigenen Transformationsprozessen, um sich seinem sanftem Kern anzunähern.
Nicht nur beim Kitsch stelle ich dieses Phänomen fest, auch bei den Haushaltsartikeln der Distinktion: Leute, die mir seit Jahren mit den Vorteilen des Himalajasalzes in den Ohren lagen, haben plötzlich den billigsten Salzklumpen auf dem Tisch stehen. Andere schwören wieder auf Maggi und Ketchup, weil die Yogi-Gewürzmischungen nicht mehr die Lieferkette entlang haben schleichen können. Mich dünkt, dass es vielmehr die Lust auf Komfortfood ist, die hier die Lieferkette bis zum eigenen Kühlschrank und Vorratsregal prägt.
Gier nach Ungesundem
Leute wollen wieder schweinische Geschmacksexplosionen mit Chips und Salz und Fett, wobei Salz und Fett noch dazu billig sein müssen, denn wir haben alle kein Geld mehr. Wir sind alle aufgeklärt darüber, warum aus einer evolutionären Verwirrung heraus unsere Körper nach Essen gieren, das in den rauen Mengen, in denen es in unserer Konsumkultur verfügbar ist, aber ungesund ist. Was man früher vermeiden wollte, eignet man sich nun produktiv an: Salz und Fett macht dumm und glücklich? Na dann her damit.
Statt Partyspaß suchen wir die Grenzüberschreitungen und Orgien aus der Kindheit. Wir wollen Essen, das prickelt; mit Herzchen und Bärchen auf dem Klo herumkuscheln. Im dunklen Kabäuschen mit unseren dunklen Gedanken brauchen wir einen Anblick, der uns wärmt. Die Pandemie gibt also Anlass, uns umzuorientieren, andere Gänge im Supermarkt abzugehen, sogar neue Supermärkte zu betreten.
Auch ich habe mir neue Gewohnheiten erarbeitet. In einer Tageszeitung las ich kürzlich, dass wir uns in der „Snackfalle Homeoffice“ befinden, in der wir alle dicker werden. Ich befinde mich in der wohligen „Snackhöhle Homeoffice“ und mache es mir dort mit Chipssalzklumpen, Zuckertorte, Maggisuppe, Glühwein und der billigen Liebe von Herzchenpapier gemütlich. Zwischendurch mache ich ja Yoga und bilde meinen eigenen Verdauungskreislauf von Trash und Wohlbehagen.
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