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Sammler Edition Julian SchnabelIch kannte ihn kaum

Vom Wunsch, Momente festzuhalten: Die Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson über den Künstler und Freund Julian Schnabel.

Die Titelseite des Buch mit: Julian Schnabel, Large Girl with No Eyes, 2001 Foto: Taschen Verlag

Montauk

Wann war das? Wir sitzen auf der Bank vor Julians dreiwandigem Freiluftatelier in Montauk. Es ist ein Nachmittag im Spätsommer, das Licht ist sanft, der Himmel beinahe transparent, ein mildes Blau, das die Augen beruhigt, wenn das Licht sie erfüllt.

Lou und ich sitzen mit unserem Hund Lolabelle auf einer dünnen eisernen Bank, den Rücken zum Pool, den Blick auf das Atelier, in dem Julian malt und redet. Lou ist ganz mitgenommen von den Interferonbehandlungen wegen seiner Hepatitis und Lolabelle ganz aufgedunsen von Medikamenten gegen dieselbe Krankheit.

„Schaut her, was passiert, wenn ich hier einen Strich mache!“, sagt Julian, während er auf das Bild zugeht und am Rand eine lange blaue Linie malt. „Seht! Es verändert alles!“ Wir sehen es. Wenn man ihm beim Malen zusieht, ist es so, als würde vor unseren Augen ein Film gleichzeitig geschrieben, gedreht, geschnitten und vorgeführt.

Wir beobachten ihn dabei, wie er eins seiner Bilder betrachtet. Und ich denke daran, wie sehr es in seiner Arbeit genau darum geht. Viele seiner Filme handeln von Menschen, die schauen, von Menschen, die sehen, Basquiat, Arenas, van Gogh und Jean-Do, aus seinem einen Auge in Schmetterling und Taucherglocke.

Julian Schnabel, Last Attempt at Attracting Butterflies, 1994 Foto: Taschen Verlag

Es ist zurzeit schwer, in die Vergangenheit einzutauchen. Warum durch Räume wandern, in denen niemand mehr lebt? Warum die Toten wieder zum Leben erwecken, damit sie dann in unseren Armen wieder in sich zusammensinken? Vielleicht ist genau das der Auslöser, ein Bild zu malen oder einen Song zu schreiben: der Wunsch, diesen Moment festzuhalten, der immer mehr oder weniger der gleiche ist.

An der Schwelle zur Ewigkeit. Ein goldener Himmel. Ich denke an „Who Am I?“, Lous wunderschönen Song über Erinnerung und Freiheit, und schon geht es mir besser. „Wenn es falsch ist, darüber nachzudenken / Die tote Vergangenheit in deiner Faust zu halten / Warum haben wir dann Erinnerungen? / Lasst uns den Verstand verlieren und frei sein.“

Wenn ich an Julian denke, sehe ich ihn vor mir, wie er verschiedene Dinge betrachtet – die Form eines Pinselstrichs, das Licht in einem Raum, die Beugung eines Arms auf einem Gemälde. Wenn ich mir seine Arbeiten angesehen habe, gehen mir danach lauter Fragen und Geschichten durch den Kopf, und dann denke ich an etwas, von dem ich nicht bemerkt hatte, dass es mich beschäftigt. Gibt es so etwas wie Schicksal? Warum ist Identität so fließend? Was machen wir hier überhaupt?

Gründe, zu leben

Seit Lous Tod vor beinahe sieben Jahren bin ich immer dabei, furchtbar traurig und gleichzeitig seltsam klarsichtig zu werden. Was treibt uns an? Was lässt uns jeden Morgen aufstehen? Julian zeigt mir, was das Leben lebenswert macht, dank seiner genussbetonten, zielstrebigen und einfach nur unbeschwerten Einstellung zum Leben.

Inmitten der Pandemie und zahlloser Absagen der verschiedensten Projekte bin ich mir unsicher, was ich als Atelier benutzen soll. „Häng deine Bilder in die Bäume“, sagt er. „Und warte, was dann passiert.“ Wenn ich an Julian denke, denke ich an Liebe und an die Passion, mit der er alles macht – surfen, kochen, malen, Filme drehen, schrei­ben, Vater sein, Sohn, Ehemann, Freund.

Ich mache eine Liste von Dingen, die ich in den Bildern zu sehen glaube: Federn, Pfeile, Flecken auf Fenstern, Diamanten, Schneeflocken, Spulen, Hufe. Dazu Spiralen, Ranken, Amöben, winzige flatternde Fahnen.
Kratzer, Schichten von Klecksen, durchscheinende Häufungen, Flecken getrockneten Blutes, an Drähten befestigte Blüten.

Es ist schwer, Worte für diese Zeichen zu finden. Da sind noch flatternde Blätter, dichte Uferlinien, fallende Hülsen, ein in Mumienpapier gewickelter alter Mann, Schlüssel. Und eine Baskenmütze, die auf einen wirbelnden Tornado aus blauer Farbe gefallen ist. Dinge, die sich von Positiv- zu Negativformen verschieben. Ein Greif in einem Fez.

Wenn man Julian beim Malen zusieht, sieht man jemanden, der völlig frei ist. Man muss schnell denken, während Bilder auftauchen und unter weißen Pinselstrichen wieder verschwinden. Manchmal übermalt er das Ganze mit weißer Farbe und wäscht dann alles mit einem Gartenschlauch ab.

Julian Schnabel in seinem Atelier in den 70er Jahren Foto: Taschen Verlag

Ich mache eine Pause und schaue ihm nicht mehr zu. Wenn ich nach einer Weile wieder hinsehe, ist alles anders – ein neuer Entwurf. Lauter sich auflösende gekräuselte Linien auf wolligen Flecken. Auf einmal ­zittern alle Linien in einer Art Vibrato, die Zeichen sind zu Musik geworden. Ich frage Julian: „Was ist jetzt los?“, und er sagt: „Ich weiß nicht. Vielleicht sind es Action Paintings.“

Ich liebe die Titel seiner Bilder, die wie Hinweise wirken, Verbindungsglieder zwischen der Welt der Bilder und der Welt der Worte. Zeichen müssen nicht wie Eulen oder Häuser aussehen. Es ist eine visuelle Welt, in der schäumende Formmassen nicht gleich Wolken sind. Ich merke, dass mein Verstand verzweifelt nach Worten sucht. „Übersetzung! Bedeutung!“, fordert er. Dann schalte ich ihn aus. Diese Bilder können ohne Namen auskommen und das ewige Geheimnis in allen Dingen verkörpern.

Das Buch

„Julian Schnabel“, herausgegeben von Hans Werner Holzwarth und Louise Kugelberg. Mit Texten von Laurie Anderson, Eric de Chassey, Bonnie Clearwater, Donatien Grau, Max Hollein, Daniel Kehlmann; Taschen-Verlag, 2021, Hardcover in einer Schlagkassette, 570 S.; Deutsch, Englisch, Französisch; Collector’s Edition, limitiert auf 1.000 nummerierte und von Julian Schnabel signierte Exemplare; 750 Euro.

Schwimmen und sich ­treiben lassen

Julian und ich sind durch den Tod miteinander verbunden. Ich erinnere mich, wie er seine Mutter, als sie schon sehr alt war, ein fragiles Knochenbündel, sanft durch den Pool auf den Armen trug, sich mit ihr im Kreis drehte und fragte: „Gefällt es dir hier?“, und sie antwortete: „Vor allem mit dir.“

Ich erinnere mich, wie er sich um seinen Vater Jack kümmerte, ein Pflegebett in seinem Haus aufstellte und jeden Morgen mit dem Telefon in den Raum kam, es Jack reichte und sagte: „Hier, Pop, nimm das Telefon. Ruf deinen Makler an. Nimm das Telefon. Er wartet auf deinen Anruf.“ Wie er ihn am Leben hielt. Als Jack starb, rief Julian Lou an und bat ihn, zu kommen und mit ihm bei seinem Vater zu sitzen, der tot im Bett lag. Julian hatte ein Maltuch um den Kopf seines Vaters gebunden, damit sein Mund geschlossen blieb.

Er verstand Lou besser als fast jeder andere. Ihre Freundschaft beruhte auf grenzenlosem Vertrauen und völliger Vertrautheit. Er hat meine Lieblingsfotos von Lou in Montauk aufgenommen: Lou mit Badehose in einem alten Cabriolet, mit einem Schwert in der Hand. „Wie ein Samurai oder jemand aus einem Film von Tarkowski“, sagt Julian. Es ist Liebe, aber auch Vertrauen – auf jedem Bild von den beiden erkennt man es in ihren Augen.

Die Autorin

Laurie Anderson ist als Musikerin und Performance-Künstlerin bekannt. Verheiratet mit Lou Reed (1942-2013) ist sie ein langjährige Freundin von Julian Schnabel. Es war dem Maler, Bildhauer, Filmregisseur und Surfer ein Herzenswunsch und dazu eine Selbstverständlichkeit, dass sie den Prachtband, der sein Werk aus fünf Jahrzehnten zeigt, von den ersten Wax-Paintings über die Scherbenbilder bis hin zu den Riesenformaten, die er unter freiem Himmel malt, einleitet.

Jahre später starb Lou. Julian kam am Tag davor zu Besuch. Es war zufällig Julians Geburtstag, und er hob Lou in die Höhe, trug ihn in den Pool und drehte sich sanft mit ihm auf seinen Armen. Dann saßen wir zu dritt auf dem Sofa und sahen uns Julians und Lous Film „Berlin“ an. Lou jauchzte glücklich, vor allem wenn Steve Hunter coole Gitarrenriffs spielte.

Und während des Abspanns riefen sie gemeinsam: „Wer hat diesen Film bezahlt? Die Autoren!“ Dann brüllten sie vor Lachen.

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