: Ganz bei sich, woanders sein
Gelehrte und Geistliche, junge Frauen: Dem „Finger im Buch“, also der Darstellung der unterbrochenen Lektüre in der bildenden Kunst, widmet sich Ulrich Johannes Schneider in seinem Vortrag in der Kunstbibliothek
Von Jan Jekal
Edgar Allan Poe glaubte an die Kraft der ununterbrochenen Lektüre. Am Stück sollte man eine Geschichte lesen können, fand er, der Erfinder der Kurzgeschichte, denn jede Unterbrechung lasse die fiktive Welt verblassen und raube der Literatur ihre Wirkung. Seit Poe seine ästhetischen Grundregeln niedergeschrieben hat, haben sich einige Dinge geändert, es gibt nun zum Beispiel Push-Notifications, und ununterbrochene Lektüren passen in die digitale Moderne wie Tinder ins Haus Usher. Wobei wirklich ununterbrochenes Lesen wohl nie etwas anderes als ein Ideal war, kommt es doch selbst beim Lesen kurzer Texte zwingend zu Unterbrechungen.
Lesen bedeutet immer, sich stückweise, in Intervallen, mit unbeständiger Aufmerksamkeit und schwankender Konzentration einem Text zu widmen, zwischendurch den Faden zu verlieren, abzuschweifen, ein oder zwei Absätze zurückzugehen, das Buch aus der Hand zu legen oder es nur zusammenzuklappen. Vielleicht mit einem Finger drin, um gleich wieder weiterzulesen.
Dem „Finger im Buch“, genauer der Darstellung der unterbrochenen Lektüre in der bildenden Kunst, widmet sich Ulrich Johannes Schneider in seinem gleichnamigen Vortrag, den er am Dienstagabend im Rahmen der von der Kunstbibliothek organisierten Reihe „Visuelle Systeme: Interdisziplinäre Perspektiven auf Schrift und Typografie“ hielt. „Wenn wir sagen, wir haben ein Buch gelesen, dann würden wir niemals meinen, dass wir das Buch am Stück gelesen haben“, sagt Schneider, Philosophiehistoriker und Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, anfangs. „Wer Tolstois ‚Krieg und Frieden‘ liest, braucht dafür Wochen, im besten Falle. Es gibt also eine gewisse Vorstellung vom Lesen als einer emphatischen Einheit der Aufmerksamkeit, und diese Vorstellung wollte ich problematisieren, um Zweifel zu streuen und die Frage zu stellen, ob Lesen nicht vielmehr aus der Situation heraus erklärt werden muss.“
Fünfzehn Kunstwerke zeigt Schneider in seinem Vortrag, Ölgemälde, Kupferstiche, Statuen, vor allem aus dem späten Mittelalter und der Renaissance. Fünfzehn Porträts von Menschen mit ihrem Finger in einem Buch, Gelehrte und Geistliche, junge Männer und junge Frauen, Rubens’ Ehefrau in einem höchst suggestiven Porträt (die erotische Qualität des Motivs lässt Schneider unerwähnt), zweimal ist die Jungfrau Maria darunter.
Schneider, der dem Thema im vergangenen Jahr ein Buch gewidmet hat, beschreibt die Bilder aufmerksam, stellt sich die Welt in ihnen vor, skizziert die Biografien der Porträtierten und spekuliert, welche Bücher es sein könnten, die sie da in den Händen halten.
In den Bildern ist das Buch ein Attribut, es charakterisiert die porträtierte Person, lässt sie gebildet, fromm oder kontemplativ wirken. Es überhöht die Person auf eine wenig bestimmte Weise, sagt Schneider, denn man wisse nur, dass sie liest, nicht aber, was sie liest. Die Motivwahl des Fingers im Buch markiert zudem eine Momentaufnahme, sie verewigt einen Augenblick. Die Personen in den Bildern schauen auf, waren gerade noch im Lesen begriffen, waren „ganz bei sich, indem sie woanders waren“, und werden nun zurück in die Welt geholt.
„Wie konzentriert und wie innig wir lesen“, sagt Schneider, der sich übrigens von zu Hause meldet und, wie sollte es anders sein, vor gut gefüllten Bücherregalen sitzt, „wie stark wir mit etwas Jenseitigem durch das Lesen auch verbunden sind, wir können gleichzeitig Opfer äußerer Unterbrechungen werden.“ Die Verkündigungsszene, hier in einer Holzmalerei von Simone Martini aus dem Jahr 1333, mit einer eher genervt aussehenden Maria, sei ein Beispiel dafür, dass es „Unterbrechungen immer geben wird“. Zugleich weisen einige der Bilder auf die Kraft der Literatur hin, auf „die Kraft von Texten, die erobern, die verzaubern, denen man sich hingibt, wo Unterbrechung kein bisschen störend ist, weil in unserem Kopf das weiterläuft, was wir gerade gelesen haben“.
Eine ausgearbeitete These habe er nicht, sagt Schneider selbst, und ein wenig zufällig wirkt seine Themenwahl durchaus, zumal es sich bei dem Finger im geschlossenen Buch um ein ausgesprochen seltenes Motiv handelt. Sein zentraler Gedanke ist der, dass der Akt des Lesens nicht ohne die Umstände zu denken ist, in denen er passiert. Die Bilder, die Schneider zeigt, stellen genau das dar: Lesen findet in Situationen statt, deren Gegebenheiten sich plötzlich ändern können. Aus dem Nichts taucht ein Engel auf und verkündigt die Geburt von Gottes Sohn. Wie soll man sich da konzentrieren können?
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