Imagination wird knapp

Kulturschaffende blicken zurück und voraus, Teil 3: Was bleibt, was fehlt, was hilft, was kann noch werden? Splitter aus Gesprächen mit Menschen, die in Theatern, der Care-Culture und in Clubs unterwegs sind oder waren

Tanztage Berlin 2021, Szene aus Judith Förster, Showdown AV Fotos: Stella Horta

Von Astrid Kaminski

Talkathon

„Viele sprechen während der Pandemie nur noch mit den selben sechs bis sieben Leuten“, hat Eline Banken, Dramaturgin beim Niederländischen Theater Gent (NTGent), beobachtet. Wenn die Runde einmal abgearbeitet ist, geht es wieder von vorne los. Um das 7-Leute-Universum wieder etwas zu vergrößern, hilft nur eines: ­Talkathons. Nachteile wie noch mehr glühende Telefonhörer, noch mehr Zoom, noch weniger Spaziergänge sind unvermeidbar.

Spaziergänge

Ein Kollege meinte kürzlich: „Am Anfang hatte es noch etwas von Kuraufenthalt. Aber inzwischen geht es nur noch um rechts oder links aus der Wohnungstür raus.“

Wohin eigentlich?

Leute, die sich bereit erklären, über 2020 zu sprechen, sind nicht schwer zu finden. Es gibt einen gewissen Redebedarf. Schwieriger ist es mit 2021. Da gibt es Schweigebedarf. Keine Imaginationskraft mehr übrig. Oder die Leute sind im Winterschlaf oder wollen die Verantwortung als Wahrsager:innen nicht übernehmen. „Ich bin leider nicht Christian Drosten“, hat mir jemand geschrieben. „Wir werden noch lange nicht verstehen, was los ist“, sagt Sci-Fi-Autor* und Performer* Clay AD. Und Pedro Marum, Kurator* und DJ*: „Die Zukunft löst sich auf.“

Kleine Gesten, große Gesten

Aber es ist nicht nur die nebulöse Zukunft, die Sprechen schwierig macht, es ist auch Vorsicht. Mateusz Szymanówka, der Kurator der Tanztage Berlin, überlegte kürzlich in einem Interview, es käme darauf an, mit kleinen Gesten weiterzukommen. Die großen Gesten seien vereinnahmt. Das war, kurz ­bevor das Kapitol gestürmt wurde.

Informelles Sprechen

Annemie Vanackere, Intendantin und Geschäftsführerin des Berliner Theaters HAU – Hebbel am Ufer, bemerkt in ihrem rund 80-Leute-Team, wie sehr durch das Homeoffice das informelle Sprechen fehlt. Wie wichtig es für Kreativität und Wohlbefinden sei.

Care

Über „Care“ in der Kunstszene wird schon lange gesprochen. Jedoch gibt es noch immer keine Übersetzung, die es mit der Knappheit des Englischen aufnehmen könnte. „Fürsorge“ hört sich entweder paternalistisch oder nach Mutter Teresa an, „Pflege“ nach bettlägerig, „Sorge“ allein klingt zu sehr nach Gram. Also Care.

Care-Manifesto

„Was in den vergangenen zehn katastrophalen Monaten unermesslich wichtig war, die Pandemie hat das Thema Care ins Zentrum der politischen Diskussion gebracht. Dieses sehr alte Wort ist aufs Neue in Mode, und zwar mit einigen unerwarteten Wendungen.“ Das schrieben Lynne Segal und Andreas Chatzidakis Anfang des Monats im britischen Guardian. Beide gehören dem Care-Collective an, das 2017 das „Care-Manifesto“ herausbrachte. Sie fordern darin einen Wandel von einer kompetitiven zu einer kooperativen Gesellschaft. Sowie eine, in der alle das Gefühl haben, dass ihre Stimmen gehört werden. Im Guardian wiederum schreiben sie: „Sie hörbar zu machen, fordert kollektives Engagement anstelle von Konsumentenverhalten, individualistischen und apolitischen Lebensstilen.“

Kunst trifft Pflegeberufe

Kulturschaffende, die in Pflegeberufe wechseln, sind auch ohne Pandemie nicht selten. Pedro Marum schlug den umgekehrten Weg ein. Fünf Jahre lang hat Marum Pflege studiert. Jedoch schien „die medizinische Epistemologie zu vorurteils­beladen“ und „fehlte die Kreativität“. In der ersten Corona­welle setzte sich Marum nun mit dem Kollektiv Ravelength dafür ein, Expert:innen aus Clubs, Kunst, medizinischen und sozialen Berufen zusammenzubringen, um Menschen aus Raver-­Communitys, die sich als queer, trans oder People of Color bezeichnen, gegen emotionale Verzweiflung und Gefahren des Drogenkonsum zu stärken.

Todesdrift auffangen

Sowohl Lebenshunger als auch Todesdrift seien Komponenten der (queeren) Clubszene, sagt Pedro Marum. Der Club sei ein Ort, in dem Eskapismus von der Gemeinschaft aufgefangen werde. Wenn nun die Umgebung, in der im kon­trollierten Rahmen Drogenkonsum und Sex gelebt werden können, ­wegfalle, vergrößere sich die Gefahr missbräuchlicher ­Handlungen. Vor allem in Bezug auf die Substanz GHB und Chemsex seien Menschen 2020 in schwierige Situationen geraten.

Care-Forderung

„Das Thema Care müsste nicht nur ins Programm sondern vor allem in die Struktur von Institutionen Einzug erhalten“, fordert Clay AD.

Ressourcen

Die überall auf der Welt entstandenen Unterstützerinitiativen (von Kunstverkauf über Magazingründung bis zu Crowdfunding) der ersten Welle haben oft nicht bis zur zweiten durchgehalten. Der Ruf des ­Theaterweltveränderers Milo Rau „Stop the machine“ wurde nicht erhört (noch nicht einmal von ihm selbst?). Der Kultursektor hat weiterhin den Drang, sich zu überarbeiten. Sowohl Institutionen als auch Freiberufler:innen überbieten sich seit Covid-19 noch mehr dabei, ihre Relevanz zu be­weisen. Als Folge sind die Ressourcen der Szenen noch mehr angeschlagen. Wer Anfang des letzten Jahres noch geholfen hatte, brauchte am Ende nicht selten selbst Hilfe.

Käfig auf und dann?

Obwohl inzwischen einige Kraft verbraucht ist, heißt das aber nicht, dass niemand den Wunsch nach positiver Veränderung mehr ernst nimmt. Ein großes Thema während ­Covid-19 sind die Fluggewohnheiten. Wird sich daran etwas ändern? Bringt es was, wenn Wassermelonen fliegen, aber keine Kulturschaffenden? Die systemanalytische Autorin Meg Wheatley hat den Begriff „islands of sanity“ geprägt: Das Richtige tun heißt das Richtige tun, auch wenn es nicht alle tun.

First-come-first-save- und Lotto-Prinzip

Der Berliner Kultursenat wurde 2020 weltberühmt. Wegen zwei Programmen: die Soforthilfe II für Berliner Solosselbstständige (5.000 Euro bedingungslos) und ein Sonderstipendienprogramm für Berliner Künst­le­r:innen (9.000 Euro bedingungslos). Das eine lief nach dem First-come-first-save-, das andere nach dem Lotto-Prinzip. Der Pressesprecher des Senats findet am Telefon dieses Vorgehen immer noch angemessen, während andere es als neoliberal und willkürlich kritisieren. Öffentlich kritisieren es jedoch wenige, weil zu viele Freund:innen profitiert haben. Auch solche, die es eigentlich nicht gebraucht hätten. Und weil diese Anarcho-Politikgeste zwar nicht unbedingt sozial, aber auf jeden Fall nett war.

Mut

„Mutig sein bedeutet: eine angemessene Verhaltensweise in jenen Umständen zu finden, in denen man zu viel oder zu wenig tun kann.“ Das schreibt Jonathan Lear in „Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung “ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2020).

Bäume umarmen

„Durch das gemeinsame Improvisieren entlang den Regeln werden hierarchische Machtstrukturen noch mehr in Frage gestellt“, meint ­hoffnungsvoll Roberto Casarotto, Festivalmacher im norditalienischen ­Bassano del Grappa, unter anderem bekannt durch seine Community-Arbeit in Bezug auf Tanz und Parkinson. Im Sommer hatte sein Team ein Tanzprogramm für den öffentlichen Raum erarbeitet: Nach Ablauf einer Stunde hätten Kinder im Alter von 10 bis 12 Jahren angefangen, Bäume zu umarmen.

Zugänglichkeit im digitalen Theater

Jenseits von Streamen oder Nichtstreamen hat unter anderem das Berliner HAU – Thea­ter am Ufer festgestellt, dass es viele digitale Techniken gibt, die noch nicht ins Theater ­eingezogen sind. Es hat die Konsequenz ergriffen und langfristig eine digitale Spielstätte, das HAU 4, aufgemacht – ausdrücklich nicht mit dem Ziel Live-Theater zu übertragen. Es soll, sagt HAU-Dramaturgin ­Sarah Reimann, „eine bessere Zugänglichkeit zu Inhalten und Ästhetiken des Digitalen“ sowie ein „Empowerment für Frauen* und Mädchen* in Bezug auf das Hacken und Programmieren“ entstehen. Pate standen daher keine „Tec-Boys“, sondern das Label dgtl fmnsm. Ideen ­wurden 2020 durch ein ­digitales Labor mit einem Hackathon und Forschungsresidenzen entwickelt. Seit dem vergangenem Wochenende sind die Themen als Podcasts abrufbar, unter anderem als „Visionen vom Theater der Zukunft“.

Queer.house

Alle wollen sie, kaum jemand entwickelt sie ernsthaft: alternative Soziale-Medien-Plattformen. Die Abhängigkeit von den wenigen Providern ist größer als je. Aber zum Beispiel queer.house hat dazu eine Initiative ergriffen.

Synergie

„Es geht in Zukunft darum, herauszufinden, was die bestmögliche Synergie aus Online und Offline ist“, sagt Eline Banken vom NTGent.

Freundlichkeit

„Was mich im letzten Jahr glücklich machte, waren kleine Gesten“, sagt Clay AD. Wie was? „Wie Freundlichkeit“.

Ankündigung:

Am 14. Januar wird Care-Manifesto-Autorin Lynne Segal zusammen mit der Historikerin Edna Bonhomme und der Politikwissenschaftlerin Anne Jung im Livestream der Reihe „School of Resistence“ des NTGent über „Politics of Interdependence. What would a truly caring world look like“ sprechen.

Am 16. Januar stellt Pedro Marum Kunst&Care-Initiativen unter „An endless dance“ online im Programm der Berliner Sophiensaele vor.