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Entgrenzter guter Geschmack

Immer gibt es hier was zu entdecken, diesmal etwa die Noise-Rockerin Safi: Auch die 14. Ausgabe der feministischen Veranstaltungsreihe „Ich brauche eine Genie“ überzeugt mit einer genialen Mischung aus Kunst und Müll

Von Zora Schiffer

Am Donnerstagabend fand die 14. Ausgabe des feministisch-dadaistischen Events „Ich brauche eine Genie“ als Livestream auf Youtube statt. Alle viertel Jahre bereiten Sandra und Kerstin Grether damit eine fulminante Bühne für weibliche Schöpfungsakte aus Musik, Dichtung und Performance. Der besondere Reiz an dieser in den pandemischen Zeiten von der Bühne halt gerade ins Netz verschobenen Veranstaltungsreihe ist neben dem wohltuenden Empow­erment das eigentümliche Talent der Kuratorinnen, Erwartungen an Kunst und guten Geschmack sowohl zu über- als auch zu untertreffen.

Normalerweise stehen die beiden selbst als Trash-Band Doctorella auf der Bühne. Diesmal haben sie sich damit begnügt, ihre Moderation singend vorzutragen. Wer die Grethers so digital zum ersten Mal erlebt, könnte den Eindruck gewinnen, sie seien mit der Technik überfordert und starrten deshalb so verstrahlt knapp neben die Kamera, während sie in falschen Reimen, aber dafür etwas krächzend und schief, das Publikum willkommen heißen. Die anderen erkennen den anarchischen Humor zwischen den Tönen und die versteckten Schmunzler auf ihren Gesichtern.

Zwei Acts stechen an diesem Abend heraus und überzeugen aber auch ganz ohne Ironie: Safi featuring Liv Solveig und Mira Mann.

Die zu Recht als Meisterin des Noise-Rock vorgestellte Safi schafft eine dunkle, elegante Stimmung. Sie lässt raue Klangelemente wabern, durchbricht sie mit schrillen Klaviermelodien und gibt dem Ganzen durch ihren lyrischen Gesang eine klare Richtung: „Ein elektrisch geladener Wind dirigiert dieses Tun.“

Safi singt und bewegt sich in Gegensätzen. Einerseits flüstert sie sachlich gesetzte Worte, andererseits faucht und poltert sie umher. Sie ist ganz bei sich, tanzt in wogenden oder kantigen Gesten und schaut dann dem Publikum durch die Kamera direkt in die Augen und kommuniziert und spielt mit ihm, so wie mit ihrer musikalischen Begleitung an dem Abend, Liv Solveig. Auslöser für dieses sehr glückliche Zusammenspiel war die von Alin Coen ins Leben gerufene Social Media Challenge #musicwomenwednesday, bei der Musikerinnen sich gegenseitig interpretieren.

Solveig wechselt nach dem ersten Song von der E-Gitarre zur Violine und zum Gesang, und hebt damit Safis Noise-Rock auf eine neue, noch mehrdimensionalere ästhetische Ebene. Der letzte Song, „Wellen“, stammt von Andrew Unruh, dem Perkussionisten der Einstürzenden Neubauten, der Safi mal auf einer Party bat, das Stück zu covern. Ihre Version ist autonom, baut sich immer weiter auf, bis der Autritt in vielfach geloopten Stimmen hauchend endet: „Bleibst jetzt hier, bleibst jetzt hier, bleibst jetzt hier!“

Doch wir gehen weiter an diesem Abend, und wo wir hingehen, wollen wir für immer bleiben: im Film „Schau mich an“ der Dichterin und Musikerin Mira Mann unter Regie von Jovanna Reisinger. Wie in einer Traumsequenz aus einem 60er-Jahre-Film oder in einem betörenden Ketaminrausch sind die Konturen verschwommen, alles leuchtet in Pastell. Vier Frauen sitzen in einem Garten, gekleidet in neongrüne und lavendelfarbene Kostüme wie englische Ladies. In Zeitlupe schauen sie apathisch durch die Gegend, streicheln sich über den pelzbesetzten Ärmel oder lassen ein Stück Kuchen in ihrem Mund versinken. Dazu psychedelische Klangwellen und Manns Poesie.

Sie ist so gut, dass ich gar nicht über den Gegenstand ihrer Erzählung oder über die Sprache an sich nachdenke. Stattdessen tauche ich ein in den Strom ihrer Worte, die teilweise unzusammenhängend wirken, aber trotzdem einen harmonischen Eindruck hinterlassen. Es geht um Grenzen, um Liebe, um Verletzung und Freiheit. Oder sind das nur meine Gefühle, die sich da herauskehren, ob der das Unterbewusstsein aktivierenden Kunstgriffe?

Gegen Ende wird die Sprache wieder konkreter, ich höre heraus: „Fick dich, fick dich, soll mein ewiger Auftakt sein!“ und dann: „Schau mich an, schau mich doch bitte gerne an.“

Mira Manns Vortrag ist geschmeidig, taktvoll, rau, cool, sexy, ruhig und gekonnt. Ich lasse mich von ihm durchfließen, genau wie von den Tunnelblicken dieser Frauen im Lustgarten, bis alles sinnlich wird und sich öffnet, weich nach außen kehrt.

Was auf diese beiden Auftritte folgt, sind drei Acts, die an die Grenzen meiner Trash-Toleranz stoßen. Das Pop-Duo Jolly Goods schwimmt in Begleitung einer Katze durch schlecht animierte Unterwasserwelten. Darauf folgt Natasha P. mit einer Mischung aus scheinbar improvisiertem Nonsens-Gesang und einer Video-Collage aus banal gefilmten Dingen wie einer Spinne, einem pupsenden Baby oder einem modrigen Bachufer. Das bringt mich dazu, „Trash“ zu googlen. Im Duden erfahre ich, dass es sich dabei um den bewussten Umgang mit Ramsch handelt. Ich bin mir sicher, dass Natasha P. sich dessen bewusst ist, but does that alone a trash artist make?

Diese Frage begleitet auch den letzten Teil des Abends, in dem Sandra Grether aus dem Buch „Sex Revolts“ von Joy Press und Simon Reynolds vorliest, wobei ihre unkonzentrierte Art und eine laute monotone Begleitmusik vom Text ablenken.

Genau das meine ich mit dem Talent, Erwartungen gleichzeitig zu über- und zu untertreffen. Denn ich bin so voller Freude über die Entdeckung von Safi und Mira Mann, dass ich auch den Rest ertrage. Er fordert meine Aufmerksamkeit und trägt dazu bei, meine urteilende Seele ein bisschen weiter zu öffnen.

Außerdem haben diese Lockdown-Konzerte ja einen entscheidenden Vorteil: die Möglichkeit, zurückzuspulen …

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