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Einbruch der Realität

In der Onlineausgabe der Französischen Filmwoche kann man von heute an sehr unterschiedliche Frauenpaare auf dem Bildschirm kennenlernen. Auch die Charlie-Hebdo- und Bataclan-Attentate werden verarbeitet

Anaïs and Emma in dem Dokumentarfilm „Adoles­centes“ von Sebastien Lifshitz Foto: Französische Filmwoche 2020

Von Ekkehard Knörer

Claude & Marie. Roubaix in Nordfrankreich, nahe der belgischen Grenze, war einst eine bedeutende Industriestadt. Wenn man es heute kennt, dann vor allem als Zielort des berühmten Eintagearadrennens Paris–Roubaix. Die Stadt ist arm, überschuldet, mit hoher Arbeitslosenquote, am Rand der Republik, von der Hauptstadt vergessen.

Arnaud Desplechin, einer der renommiertesten französischen Regisseure, Dauergast im Cannes-Wettbewerb, ist hier geboren und aufgewachsen. „Roubaix, une lumière“, sein jüngster Film, nun bei der Französischen Filmwoche in ihrer Onlineausgabe zu sehen, trägt die Stadt seiner Herkunft im Titel. (Der internationale Titel, „Oh Mercy!“, verweist auf die religiösen Untertöne des Films.)

Der Film ist inspiriert von einer Dokumentation über eine Polizeistation in Roubaix, und auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde eine Genregeschichte erzählt. Die Polizeistation und ein Polizist namens ­Yacoub Daoud (Roschdy Zem) stehen zunächst im Zentrum. Einer der Fälle, mit denen er es zu tun hat: Zwei junge Frauen ohne Job, ohne Geld, die eine hat ein kleines Kind, geraten unter Verdacht, eine alte Frau getötet zu haben.

Desplechin hat sie mit den Stars Léa Seydoux und Sara Forestier attraktiv besetzt; zu attraktiv vielleicht. So ganz glaubwürdig jedenfalls fügen sich das präzise Porträt einer he­runtergekommenen Stadt und das hoch virtuos als Kriminalgeschichte erzählte Psychodrama, die dokumentarischen und die Genre-Elemente bis zuletzt nicht zusammen.

Anaïs & Emma. Brive-la-Gaillarde ist mit rund 50.000 Einwohnern die größte Stadt im Département Corrèze, tiefe französische Provinz. Sébastien Lif­shitz, der in Paris lebt und lehrt und vor allem für seine hoch sensiblen Filme zu LGBTQ-Themen bekannt geworden ist, hat für „Adolescentes“ über mehrere Jahre hinweg das Leben zweier Mädchen, dann junger Frauen dokumentarisch verfolgt, die in Brive leben und Freundinnen sind.

Zu Beginn des Films sind sie rund vierzehn, die eine, Anaïs, stammt aus dem, was man mit Fug und Recht schwierige Verhältnisse nennen kann: wenig Bildung, wenig Geld, die Mutter schwer krank, körperlich und auch psychisch, die Familie als Hindernis eher denn als Hilfe. Dagegen Emma: ambitionierte Mittelschicht, die Mutter immer dahinter her, dass aus der Tochter was wird. Wenn auch nicht unbedingt Schauspielerin, Kamerafrau, Drehbuchautorin oder Regisseurin. Am Ende bricht Emma auf nach Paris, sie will zum Kino.

Lifshitz zeigt das Leben der beiden, sie bleiben befreundet, aber die Wege führen zusehends auseinander. Es sind ganz gewöhnliche Leben in der Provinz, erste Lieben, Teenagersorgen. Umso heftiger lässt Lifshitz die Charlie-Hebdo- und Bataclan-Attentate und, auf andere Weise schockierend, die Präsidentschaftswahl in seinen Film knallen.

Salomé & Jessica. Die Verdonschlucht liegt tief im Südosten, einer der größten Canyons Europas, beliebtes Touristengebiet, die Gegend ist spärlich besiedelt. Salomé (Salomé Richard) kommt von hier, kehrt für einen Sommerjob hierher zurück. Sie ist über 30, arbeitet als Kunsttischlerin, kann davon aber kaum leben. Ihre Eltern sind getrennt, leben beide nicht mehr hier. Mit der Unterkunft klappt etwas nicht, so gerät sie in einen Wohnwagen auf dem Gelände der Müllkippe, auf der sie auch jobbt.

Eine Frau namens Jessica

Aus heiterem Himmel, mit Geschrei und Gezeter, schlägt eine junge Frau namens Jessica genau hier auf, an diesem bedingt utopischen Ort. Sie ist Teilnehmerin eines Reality-TV-Spiels mit dem bezeichnenden Titel „I will survive“. Weil sie sich aber helfen lässt von Salomé, was die Regeln verbieten, fliegt sie raus und lässt sich bei Salomé, auf der Müllkippe, nieder.

Regisseur Alain Raoust, in Nizza geboren, stammt aus der Gegend. Mit „Rêves de jeunesse“ hat er nach 12 Jahren Pause wieder einen Spielfilm gedreht, der aufs Episodische setzt und die Tonart so abrupt wie gekonnt wechselt. Und obwohl es mehr als deutliche Westernanklänge gibt, schlägt Raoust aus der spektakulären Landschaft absichtlich kein Kapital. Es geht nicht um heroischen Aufbruch, sondern um melancholische Rückkehr, es sind Geschichten aus der Vergangenheit, mit denen sich Salomé konfrontiert sieht: Von ihrer Jugendliebe Mathis finden sich nur Überbleibsel, er ist gestorben, sie sammelt Erinnerungen und Reste zusammen.

Man weiß bei dem Film aber nie, was kommt. Ein suizidaler Radfahrer etwa, der erst das Rad, dann sich selbst in einen riesigen Müllcontainer stürzt. Oder ein utopisches Ende, den wenig erhebenden Realitäten furios abgetrotzt.

Französische Filmwoche, 26. 11. bis 2. 12. unter www.franzoe­sische-filmwoche.de

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