Über das Stolpern im Alltag: Kleine Krater im Asphalt
Wer stolpert, erlebt immer etwas mehr Freiheit als einer, der schnurstracks zum Ziel eilt. Zeit, sich mit den Unebenheiten auf dem eigenen Weg zu befassen.
D a braucht es also eine Pandemie, damit die Kolumnistin sich fragt, weshalb ihre Kolumne eigentlich „Schlagloch“ heißt. In einem kleinen digitalen Tête-á-Tête kamen wir Kolumnist:innen erstmals darauf, darüber zu sprechen, warum diese Kolumne nicht etwa „Das Wort zur Woche“ heißt.
Im Schlagloch liegt das „Stolpern über etwas“ verborgen. Wer stolpert, erlebt immer etwas mehr Freiheit als einer, der schnurstracks zum Ziel eilt. Stolpern, das ist eigentlich eine Bewegungssequenz, die mit dem Aufrichten und Sich-Umsehen endet: Worüber ist man denn so gestolpert? Dank der Scham ist man dem kindlichen Blick recht nah.
Hätte ich eher über „das Schlagloch“ an sich nachgedacht, hätte ich mich nicht jedes Mal nur mit meinen politischen Analysen befasst. Durch Analysen schwebt man ja über dem Asphalt. Man fährt nicht darauf herum. Man steht am Rand und beurteilt, was andere so zusammenfahren. Auch eine gute Position, aber nicht ganz das, was das Schlagloch ist, selbst dann, wenn es einem gelingt, es zu umfahren.
Ich denke zurück an ein Theaterprojekt, das ich vor Jahren mit Freunden in Rumänien realisiert hatte; wir fuhren an einem freien Tag in einem kleinen Wagen zu einem Gebirge nahe Hermannstadt (Sibiu). Ich habe nie wieder im Leben eine so verschlaglöcherte Straße gesehen. Auf der Rückfahrt, es war Nacht, saß ich quasi mit der Stirn an der Windschutzscheibe neben der Fahrerin und lotste sie um die Schlaglöcher herum. Es waren eher kleine Krater im Asphalt, die den Mietwagen fast aufgefressen hätten. Man will da nicht reinfallen. Das war, nebenbei, eine meiner ersten Lektionen in Sachen EU: Man poliert die Kulturhauptstadt für Europas Touristen, aber das Umland lässt man an einer Kette von Schlaglöchern verhungern.
Ja, ich hätte hier sicher mehr von den Schlaglöchern des Alltags geschrieben. Wobei so ein Begriff, wenn man sich ihm annähert, sich zunächst immer ein wenig entfernt.
Es ist eine seltsame Gewohnheit von mir, einen Begriff, der mehr als dreimal in einem Text vorkommt, plötzlich zu googeln, als wäre ich mir nicht sicher, ob ich ihn verstehe. Sobald ich mich auf einen Begriff zu sehr verlassen will, aktiviert sich eine Art Grundmisstrauen gegen meine Wortauffassung: Was, wenn ich diesen Begriff irgendwie falsch abgespeichert habe?
Ich google „Schlagloch“ und sehe: Schlaglöcher sind in der Tat diese Risse im Asphalt. Manche sehen aus wie Erdwunden. Die Suchmaschine wirft sofort entsprechende Bilder aus, wenn man „Schlagloch“ eintippt.
Ich lerne auf den Autofahrerdienstleitungsseiten, die aufpoppen, dass es versicherungsrechtlich ziemlich bescheuert enden kann, in so ein Schlagloch zu fallen mit dem Auto; ich lerne auch, dass man nicht einmal in der eigenen Straße mit einem Eimer Teer rausdürfte, um das Schlagloch zuzuschütten, dafür sei die Kommune zuständig – was mir eine grundsätzliche Problematik dieses Landes wieder vor Augen führt: Für alles ist irgendeine Behörde zuständig.
Man macht sich sogar strafbar, wenn man es gut machen will, und so sitzen alle jammernd oder motzend vor ihren Schlaglöchern und belästigen oder beschimpfen die Zuständigen, die naturgemäß zu spät kommen, weil sie für zu viele und zu vieles zuständig sind. So lässt sich eine Gesellschaft mittels Zuständigkeiten auch lähmen.
Ich stolpere physisch viel weniger seit diesem zweiten Lockdown, allein deshalb, weil ich mich weniger bewege. Gleichzeitig ist diese monatelange Coronazeit wie ein Schlagloch an sich. Weiß nicht, wie ich reinfiel, noch weiß ich, wie ich rauskomme oder wann. Ich versuche mir vorzustellen, wie ein Schlagloch beschaffen sein müsste, das sich beim Autofahren anfühlen würde wie diese Pandemie. Aber nicht einmal diese Fantasie bekommt ihren Raum, weil ich schon an die Autohasser denke und wie sie sagen werden, ich solle nicht mit Autos in den Gehirnwindungen fantasieren.
Ich bewundere diese Resolutheit. Ich hatte wohl immer zu viel Respekt vor der Tatsache, dass das Leben des anderen nun einmal das Leben des anderen ist und somit ist es das Auto der anderen. Es sind aber unsere Straßen, klar, womit wir wieder bei den Schlaglöchern wären, denn irgendjemand muss sie instand setzen und alle müssen dafür bezahlen. Diese Interdependenz entwickelter Gesellschaften ist manchmal eine Zumutung für eine wie mich, die gerne alle im Laissez-faire-Modus leben lassen würde.
Wahrscheinlich rührt das von einer Verklärung aus meiner Kindheit: Im ehemaligen Jugoslawien haben Leute einfach mal so Häuser in die Landschaft gebaut, weil das Land ja leer stand. Sehr plausibel fand ich das als Kind. In Deutschland hingegen durfte man nicht einmal das Fahrrad vor einem Schmuckladen parken, in dem man gleich 200 Euro für eine Kette liegen lassen würde.
Gestern Nacht auf Twitter kam aus den USA ein GIF, das Rita Hayworth zeigte, wie sie in dem Film „The Lady from Shangai“ in einer Kutsche über die Straßen gefahren wird. Dem Ruckeln nach muss es eine schlaglochreiche Straße gewesen sein. Hayworth sitzt da, ein heller Frauenkörper im Dunkel der Nacht, den Kopf ratlos gen Himmel gestreckt. Am Bildrand waren ihre Gedanken zu lesen: „I was not in my right mind.“
Jeder kennt diese Momente. Momente, die so intensiv sind, dass man, wenn man die Situation verlässt, noch keinen Sinn herstellen kann. Schlagloch-Momente. Wer hätte das alles etwa im Januar noch kommen sehen? Je länger die Pandemie sich entspinnt, desto ver-rückter kommen mir die meisten vor. Sei es im Versuch, vernünftig zu sein (als wäre dieser Wahnsinn irgendwie normal), oder im Versuch, das Ganze zu leugnen. In den sozialen Medien ruckelt es heftig, jeder dritte Tweet ein Schlagloch. Es ist offensichtlich, dass das Leben derzeit vielen auf so viele Weisen in die Fresse schlägt. Wobei: Lieber über ein Schlagloch stolpern als auf die Fresse fallen.
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