: Ein Land in der Hand der Vergangenheit
CHILE Kritischer Journalismus gegen die Medienkonzentration: zu Besuch bei Radio Bio Bio und El Mostrador
■ Land und Leute: Chile ist so groß wie Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien zusammen, hat aber nur rund 17 Millionen Einwohner. Knapp 7 Millionen leben in der Hauptstadt Santiago und im Umland.
■ Wirtschaft und Gesellschaft: Chile gilt in Lateinamerika als stabiles und wirtschaftlich erfolgreiches Land. Doch der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. So verdienten die fünf reichsten Männer bzw. Familien des Landes 2011 so viel wie über fünf Millionen ChilenInnen zusammen.
■ Regierung: Seit 2010 regiert der Multimilliardär Sebastián Piñera das Land mit einer rechten Zweiparteienkoalition. Er löste das Mitte-links-Bündnis Concertación ab, das 20 Jahre lang an der Macht war.
AUS SANTIAGO DE CHILE EVA VÖLPEL
Wie groß wäre Ihre Irritation, wenn sich die Moderatorin im „Morgenmagazin“ von ARD oder ZDF plötzlich selig schnuppernd über eine dampfende Tütensuppe beugt, um diese anzupreisen? Wohl groß.
Im staatlichen chilenischen Fernsehsender TVN ist das üblich. Thomas Mosciatti spricht von „gigantischer Korruption“. Der kleine Mann mit dem Schlafzimmerblick sitzt in seinem abgedunkelten, kargen Büro des Radiosenders Bio Bio in einem alten Einfamilienhaus im Zentrum Santiagos. So offensichtliche Schleichwerbung sei „nur ein kleiner Ausdruck davon, wie weit verbreitet in Chile schlechter Journalismus ist“, sagt Mosciatti.
Dem 62-Jährigen gehört mit seinem Bruder Nibaldo Radio Bio Bio, benannt nach einem Fluss im Süden Chiles. Ihr Vater hat den Sender ab 1966 aufgebaut. Ein Mann, der immer gewollt habe, dass das Radio unabhängig bleibt. Deswegen habe er sich sowohl mit dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende als auch mit der Militärdiktatur Augusto Pinochets überworfen.
Die Söhne sehen sich in dieser Tradition. Heute arbeiten rund 300 Journalisten für den landesweiten Nachrichtensender mit eigenen Redaktionen in einigen Regionen – ein Unikum im straff zentralistischen Chile.
Programm für die Armen
Weil Bio Bio keiner der mächtigen ökonomischen Gruppen des Landes gehört und kritische Nachfragen für Pflicht hält, hat er sich zum angesehensten Sender des Landes gemausert. „Wir bemühen uns, die ganze Bevölkerung zu repräsentieren“, sagt Mosciatti und schlürft seinen zweiten Espresso. Dann korrigiert er sich: „Die Armen sind sogar wichtiger für uns, weil ihre Stimme zu wenig gehört wird.“
Die chilenische Medienlandschaft ist mehrheitlich in den Händen alteingesessener, superreicher Familien und ihrer Wirtschaftsimperien. Die Organisation Reporter ohne Grenzen stellte 2011 eine „exzessive Medienkonzentration“ fest.
Im Alltag sind chilenische LeserInnen vor allem auf die Printprodukte oder Onlineauftritte der beiden großen Gruppen Mercurio und Copesa angewiesen. Sie sichern sich mit Regional- und den anspruchsvolleren überregionalen Tageszeitungen El Mercurio und La Tercera sowie Klatschblättern über 80 Prozent der Leserschaft – und des Anzeigenmarktes für Printprodukte.
El Mercurio und La Tercera sind die Flaggschiffe der konservativen, extrem wirtschaftsliberalen Elite. Bei Mercurio bestimmen seit über 130 Jahren die Edwards. Die Copesa-Gruppe gehört seit 2000 Álvaro Saieh. Er besitzt Banken, Investmentfirmen, Hotels und eine Supermarktkette und war ein „Chicago Boy“, einer der Gefolgsleute des Ökonomen Milton Friedman, dessen neoliberale Wirtschaftsreformen Diktator Pinochet nach dem Militärputsch von 1973 bis 1990 umsetzte.
Wenig Vielfalt bieten auch Fernsehen und Radio. 60 Prozent aller chilenischen Radiofrequenzen werden von der spanischen Prisa-Gruppe kontrolliert. Und zwei der vier wichtigsten kostenlosen Fernsehsender gehören chilenischen Elitefamilien, die natürlich auch mehrere Radiosender besitzen.
Der TV-Sender Megavisión etwa ist in den Händen der Gruppe Bethia von Liliana Solari, Großaktionärin von Immobilienunternehmen, der Fluggesellschaft LAN und des Warenhausimperiums Falabella. Canal 13 gehört zu zwei Dritteln Chiles reichster Familie, den Luksic. Ihr Geld haben sie mit Banken, Forst- und Kupferminenunternehmen gemacht. Auch Chiles Präsident, Multimilliardär Sebstián Piñera, mischte bis 2010 mit Chilevisión im TV-Geschäft mit. Als er an die Macht kam, verkaufte er.
Die privaten TV-Sender füttern ihr Publikum nicht nur mit reißerischen Crimestories, voyeuristischen Sozialreportagen und ewig wiederkehrenden Bilderschleifen. Schwerer wiegt für María Olivia Mönckeberg, Chiles vielleicht bekannteste investigative Journalistin, die inhaltliche Kastration: „Man wird in diesen Medien keine Themen finden, die den Besitzern oder ihrem Netzwerk aus Freunden und Geschäftspartnern aufstoßen würden. Mönckeberg spricht aus Erfahrung: Ihr Buch über die Gewinne der privaten Unis im Land sei von La Tercera und Mercurio totgeschwiegen worden, sagt sie. Der Grund: „Viele Journalisten zensieren sich selbst.“
Doch es gibt auch direkte Zensur. Im Mai erst dampfte René Cortázar, neuer Vorstandsvorsitzender bei Canal 13, kurzfristig eine halbstündige Reportage über die Diskriminierung von Hausmädchen auf fünf Minuten ein. Zwei Journalisten kündigten aus Protest.
Es war nicht der erste Zensurvorwurf: Als Chef des staatlichen Senders TVN versuchte Cortázar zwischen 1995 und 2000 kritische Berichte über die Geschäfte des chilenischen Multimilliardärs Eliodoro Matte zu verhindern – oder über die CIA-finanzierte Unterstützung des Mercurio als Kampfblatt gegen Allende.
Fragt man Radiounternehmer Thomas Mosciatti, warum es das Mitte-links-Bündnis Concertación, das Chile ab 1990 zwei Jahrzehnte lang regierte, versäumt hat, das Medienmonopol aufzubrechen, wird er deutlich: „Die Concertación hat die kritischen Medien der Diktaturzeit, die unter großer Gefahr erschienen, absichtlich sterben lassen. Als sie am Ruder war, konnte sie keine kritischen Stimmen mehr gebrauchen.“
Keine Chance auf Neustart
Untergegangen sind so etwa die Tageszeitungen La Época oder Zeitschriften wie Análisis, Cauce, APSI oder Página Abierta. Sie hätten nach der Diktatur, während der sie mit Hilfsgeldern aus dem Ausland überlebten, Unterstützung für einen Neustart gebraucht, sagt Mosciatti. Und ein Stück vom üppigen Anzeigenmarkt der Regierung. Doch diese Gelder lenkte auch die Mitte-links-Regierung jahrzehntelang nicht um. Bis heute fließen jedes Jahr 5 Millionen US-Dollar an die früheren Diktatur-Unterstützer Mercurio und Copesa.
Die zweite Hoffnung für Chile sitzt wie Mosciattis Radio Bio Bio in einem Einfamilienhaus Santiagos und heißt El Mostrador. 2000 im Zuge der Verhaftungen Augusto Pinochets in London gegründet, spielte das Onlineportal lange kaum eine Rolle. Bis der neue Chefredakteur Mirko Marcari es ab 2009 umkrempelte. „2011, während der monatelangen Studenten- und Schülerproteste, explodierten unsere Leserzahlen“, sagt er.
Mittlerweile lesen rund eine Million User im Monat die von gerade mal neun Journalisten gut recherchierten Hintergrundartikel, bissigen Kommentare und Kolumnen über soziale Konflikte, Umwelt- und Energiepolitik. Seit 2010 leistet sich El Mostrador auch ein TV-Portal im Netz mit ausführlichen Interviews zu tagesaktuellen Fragen. „Die Politiker reagieren mittlerweile auf uns“, sagt Marcari.
Dem Mostrador kommt zugute, dass sich die chilenische Jugend vorsichtig von den etablierten Medien emanzipiert. Studien zeigen, dass Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren den Fernsehkonsum zugunsten des Internets drosseln. „Mit den neuen Medien können wir die Welt des alten Journalismus penetrieren“, sagt Marcari. „Dank Twitter war der Präsidentschaftswahlkampf 2009 viel härter für die Politiker als jemals zuvor.“
Marcari will mit seiner Redaktion nicht weniger als den Wandel Chiles vorantreiben. „Wir machen Journalismus, der von der Energie der sozialen Bewegungen lebt. Aber wir richten uns vor allem an die aufgeklärte Elite und die politischen Entscheidungsträger. Denn da werden die Regeln bestimmt.“
■ Mehr: www.elmostrador.cl www.biobiochile.cl
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