Arbeitsbedingungen bei Amazon: Fatale Überwachung

Der Druck auf die Mitarbeiter*innen im Amazon-Zentrum Winsen ist hoch. Da kann es schon mal zu Unfällen kommen wie im Fall von Marc S.

Menschen in Warnwesten stehen am Fließband, darauf liegen Kartons

Paket für Paket im Akkord: Mitarbeiter*innen im Amazon-Logistikzentrums in Leipzig Foto: Jan Woitas/dpa

Hamburg taz | Für die vierte Operation an Armen und Händen ist Marc S. nach Hamburg gekommen. Er sitzt in einem Café nahe dem Hauptbahnhof und krempelt die Ärmel hoch: „Hier“, sagt er und zeigt auf eine Narbe am Daumen. Das war der Arbeitsunfall, dann folgten Komplikationen und eine zweite OP, an der anderen Hand eine dritte und jetzt der Ellenbogen. Marc S. hat anderthalb Jahre bei Amazon in Winsen gearbeitet. Der Druck, dem er dort ausgesetzt war, hat Spuren hinterlassen.

Wie lückenlos die Mitarbei­ter*innen im Logistikzentrum überwacht werden, hat das NDR-Magazin „Panorama“ in der vorvergangenen Woche aufgezeigt. Jedes Einscannen eines Pakets wird direkt an den Vorgesetzten übermittelt, der so genau verfolgen kann, wer wie viele Pakete pro Minute abfertigt. Die niedersächsische Datenschutzbehörde ermittelt deshalb seit fast drei Jahren gegen den Konzern, der seinen Gewinn in der Coronakrise auf 5,2 Milliarden Dollar verdoppelt hat.

„Die Manager kommen dauernd zu dir“, sagt S. im Gespräch mit der taz. „Sie zeigen dir deine Arbeitsleistung als Graph auf einem Laptop und sagen: 'Du bist schnell, das ist gut. Aber du musst noch schneller werden’. Der Druck ist immens.“ Marc S. arbeitete schnell, wie er sagt, „so schnell wie drei zusammen“. Bis er sich verletzte.

S. war im „Receive-“, also Annahmebereich, als „Production Supervisor“ tätig. Im Annahmebereich stehen die Mitarbeiter*innen an Fließbändern, schneiden hereinkommende Kartons auf, scannen die Ware und legen sie auf ein Fließband auf Kniehöhe. Der leere Karton kommt auf ein Band, das über den Köpfen entlangläuft. So geht es Paket für Paket, im Akkord.

Mit der Faust klein gemacht

Häufig habe es aber technische Probleme mit den Fließbändern gegeben, sagt S., oder Probleme, weil das outgesourcte Unternehmen, das die leeren Kartons abholen soll, nicht gekommen war und die Container überquollen. Dann musste S. das Problem an die nächsthöhere Ebene kommunizieren und dafür sorgen, dass die Kartons, die sich auf dem Boden stapelten, klein gemacht und abtransportiert werden.

Amazon-Mitarbeiter*innen holen sich ihr Arbeitsmaterial wie Sicherheitshandschuhe und spezielle Sicherheitsmesser an einem Automaten. Der/die Mitarbeiter*in scannt den Dienstausweis und bestellt per Tastenkombination die gewünschte Ware, wie beim Snackautomat am Bahnhof. „Aber wenn du schon mehrere Klingen für dein Sicherheitsmesser verbraucht hast, kriegst du keine neue“, sagt Marc.

Also habe er die Kartons mit der Faust durchboxt, um sie anschließend zu falten. Bis dabei sein Daumen umknickte: Bänderriss. Auch sein Ellenbogen hat dabei Schaden genommen, genauer der Nerv, der bis zum Ring- und Zeigefinger reicht. Die beiden Finger seiner rechten Hand sind taub.

Amazon hat ein spezielles Vorgehen dafür, befristet angestellte Mitarbeiter*innen, die nicht so schnell arbeiten wie andere oder irgendwie negativ auffallen, loszuwerden. Es gibt feste Tage für solche indirekten Entlassungen, sie heißen „Release Days“ (auf deutsch: „Tag der Freilassung“). Auch S.’ Vertrag wurde nach anderthalb Jahren nicht verlängert, obwohl er schnell genug gearbeitet habe. S. ist sich sicher, dass der Grund dafür in der langen Krankschreibung nach dem Betriebsunfall liegt.

Als US-Amerikaner ist er wesentlich schlechtere Arbeitsumstände gewohnt, als in Deutschland üblich sind. Die Arbeitsumstände bei Amazon hätten ihn aber doch überrascht: „Ich dachte nicht, dass so etwas in Deutschland möglich ist“, sagt S. Die Toiletten etwa seien bis zu 200 Meter vom Arbeitsplatz entfernt. Der Effizienz-Graph geht sofort runter, wenn ein*e Mitarbeiter*in dort hinmuss.

Peter Birke, Soziologe, Uni Göttingen

„Der Konzern hat eine glatte Fassade, wo alles sehr gut funktioniert. Darunter aber herrscht eine unheimliche Willkür“

Für die Mittagspause sind laut S. 30 Minuten vorgesehen, aber wer die Fabrik verlasse, müsse durch eine Sicherheitsschleuse gehen, an der sich manchmal eine Schlange bilde. Dann sei es in der kurzen Zeit kaum zu schaffen, sagt S. Oft habe er ohne Pause durchgearbeitet.

Einen direkten Zusammenhang zwischen Krankschreibungen und Entlassungen streitet der Amazon-Sprecher Thorsten Schwindhammer ab. „Nach der Genesung und der Rückkehr zur Arbeit nach dem Krankenstand kehren unsere Mitarbeiter an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurück“, sagt er. 70 Prozent der Mitarbeiter*innen in Winsen hätten zudem einen unbefristeten Arbeitsvertrag.

Nur: Bei Marc S. kam es bis zum „Release Day“ nicht zur vollständigen Genesung. Die Operation zog Komplikationen im Gewebe nach sich, die eine erneute Operation erforderten, und dann noch eine und noch eine, und dann die am Ellenbogen. Alles, weil Amazon nicht genug Arbeitsmaterialien rausgerückt hat?

„Jeder Mitarbeiter hat die Möglichkeit, jede Woche ein Sicherheitsmesser mit einer Ersatzklinge aus den Automaten zu entnehmen“, sagt Schwindhammer. „Wenn Mitarbeiter mehr Ersatzklingen benötigen, werden diese natürlich zur Verfügung gestellt.“

Systematischer Druck

Der Soziologe Peter Birke hat deutschlandweit Mitarbeiter*innen von Amazon befragt. „Der Konzern hat eine glatte Fassade, wo alles sehr gut funktioniert. Darunter aber herrscht eine unheimliche Willkür“, sagt er. „Vieles hängt davon ab, ob man sich gut mit dem jeweiligen Vorarbeiter versteht.“ So hält Birke auch für vorstellbar, was S. berichtet, der Konzern aber abstreitet: Dass S., nachdem er mal einen Tag krank gewesen sei, in einen Strafbereich versetzt worden sei. „Wir nannten es den Dungeon“, sagt S.: ein Bereich am Ende des Geländes hinter Stahlgittern, wo man allein unter Robotern sei, es sehr kalt sei und man sehr kleine Teile zählen müsse. Eine solche Behauptung sei „Unsinn“, sagt Schwindhammer.

Birke erklärt: „Systematisch ist der unheimliche Produktionsdruck, bei gleichzeitig permanenter Berichterstattung an die oberen Etagen. Unter diesen Umständen kann es zu Übergriffen durch Vorarbeiter kommen, die aber nur sehr schwer nachzuweisen sind.“

In den anderthalb Jahren, die S. am Standort Winsen gearbeitet hat, habe es fünf Arbeitsunfälle in seiner Abteilung gegeben, sagt er. Hundert Mitarbeiter*innen pro Schicht arbeiteten dort, am gesamten Standort sind es laut Amazon 1.900. Der Multikonzern selbst gibt zu Arbeitsunfällen keine Zahlen heraus. Er betont: „Amazon legt größten Wert auf die Sicherheit und Gesundheit seiner Mitarbeiter und hat Millionen von Dollar investiert, um einen sicheren Arbeitsplatz zu schaffen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.