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Die WahrheitDie Mauer muss weg

Was tun, wenn man ein atemberaubend schönes Haus erbt, das allerdings von einem Monstrum von niederschmetternder Hässlichkeit umstellt ist?

E s muss wie ein Unfall aussehen“, sagte Raimund, als Petris, Wirt des Café Gum, die erste Runde Bier auf die Theke stellte. Kurz zuvor waren wir bei Anne und Bernd gewesen, um die Villa anzugucken, die sie von Annes Großonkel geerbt hatten. Das Haus war atemberaubend schön, aber leider auch mit einem Blickfang von niederschmetternder Hässlichkeit geschlagen: einer übermannshohen Mauer, die das Grundstück umschloss und oben mit Stacheldraht und einbetonierten Scherben gesichert war.

„Poah!“, hatte Raimund gesagt, als wir das Monstrum betrachteten: „Die Mauer muss weg!“ Bernd indes wurde schreckensbleich. „Sei bloß still!“, zischte er. „Die Mauer muss bleiben, sie ist ein Familienheiligtum – wenn wir sie abreißen, werden wir wieder enterbt! Der Große Gustav hat sie höchstpersönlich erbaut!“

Der Große Gustav war der legendäre Stammvater von Annes Familie. Bis heute stand seine Marmorbüste bei Annes Eltern auf dem Kamin, da er um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Nichts den Reichtum der Familie mit irgendwelchen Geschäften in Kopenhagen geschaffen hatte – windigen Geschäften vermutlich, denn als im Winter 1864 der deutsch-dänische Krieg losbrach, zog er aus Furcht vor einer dänischen Invasion in panischer Eile die Mauer um sein Haus. Auch nach dem Ende des Krieges warnte er jahrzehntelang in ellenlangen Leserbriefen an die Lokalpostille vor der dänischen Gefahr, und bis heute traut sich niemand aus der Familie, den Sommerurlaub an den Stränden Jütlands zu verbringen.

„Also ein Unfall“, sagte Luis, „und wie hast du dir das vorgestellt?“ – „Ganz einfach“, sagte Raimund, „schließlich ist Theo für so was Spezialist.“ – „Was!?“, keuchte Theo: „Ich habe seit dem Volkszählungsboykott ’87 nichts Ungesetzliches mehr getan: Warum soll ausgerechnet ich Spezialist für so was sein?!“ – „Guck dir doch deine Beulenkarre an!“ „Also bitte! Das sind alles ehrliche Unfälle gewesen!“

„Egal! Wenn du direkt vor der Villa die Kontrolle über den Benz verlierst und gegen diese papierdünne Mauer krachst, wird das ganze Ding einstürzen, als ob es aus Dominosteinen wäre. Die Mauer fällt, der Benz bleibt heil und du gehst als Held der deutsch-dänischen Verständigung in die Geschichte ein. Denk an ’89. Vertrau mir! Ich kenn mich aus mit Autos, Mauern und historischen Helden!“

Niemand hat je verstanden, wie Raimund es immer wieder fertigbringt, seine Freunde zu den bescheuertsten Abenteuern anzustiften. Doch seine Überredungskunst ist deutlich ausgeprägter als sein Wissen über Autos, Mauern und Helden. Und so kam es, dass der Benz bei der Mauerfallaktion seinen letzten Schnaufer tat, die Mauer jedoch eisern stehenblieb und die einzige historische Parallele darin bestand, dass anschließend etwas zusammenwachsen durfte, was zusammengehört: Theos rechter Schienbeinknochen.

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Joachim Schulz
Joachim Schulz wurde 1963 an der Nordseeküste geboren und in Regen, Wind und Nebel großgezogen. Er lebt mittlerweile in einer kleinen Welt in der hessischen Provinz, wo unablässig die großen Fragen des Lebens erörtert werden, und ist seit 1996 im Einsatz für Die Wahrheit.
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2 Kommentare

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  • so ein Haus gibt es hier bei uns in Neustadt an der Weinstrasse (auch)

    Das Hasshaus.

    Die überlieferte Geschichte geht allerdings anders:

    BEi einem Ernschaftsstreit erbt einer das Haus die anderen/der andere nur das Grundstück drumrum.

    So wird auf drei Seiten diese hohe Sandsteinmauer erbaut, natürlich in drei Meter Baubstand wie es vorgeschrieben ist, die den Blick aus dem Haus abschirmt.



    Da das Haus am Berg steht ist die Mauer so hoch, dass das ganze Haus dreiseitig eingemauert ist.



    Nur der Blick zur Strassenseite bleibt frei.

    Erst viele Generationen später gelingt es das Mauergrundstück zu erwerben und die Mauer teilweise abzutragen.

    Alles geht mittlerweile nicht mehr aus Denkmalschutzgründen.

    Das Haus selbst ist als Einzeldenkmal geschützt.

    Die Beschreibung in der Denkmalliste:



    geht auf die Geschichte nicht ein.

  • So geht es auch.

    .....Ai Weiweis Dichter-Vater Ai Qing lebte in der Verbannung und besuchte nach seiner Rehabilitierung Ost-Berlin. Dort verfasste er dieses Gedicht, das ihm großen Ärger einhandelte. ...

    DIE MAUER



    Eine Mauer, wie ein Messer



    Schneidet sie eine Stadt in zwei Stücke



    Die eine Hälfte im Westen



    Die andere Hälfte im Osten

    Welche Höhe?



    Welche Dicke?



    Welche Länge hat die Mauer?



    Auch wenn sie noch so hoch, noch so dick, noch so lang wäre



    So könnte sie doch nicht höher, dicker und länger sein



    Als die große chinesische Mauer



    Ist sie doch auch nur ein historisches Relikt,



    Wunde eines Volkes



    Wer freute sich schon über solch eine Mauer?

    Drei Meter hoch – was besagt das schon



    Fünfzig Zentimeter dick – was besagt das schon



    Fünfundvierzig Kilometer lang – was besagt das schon



    Auch wenn sie tausendmal höher



    Tausendmal dicker



    Und tausendmal länger wäre



    Wie könnte sie hemmen



    Die Wolken am Himmel, den Wind und Sonnenschein?

    Und wie könnte sie hemmen



    Der Vögel Flug, der Nachtigall Gesang?

    Und wie könnte sie hemmen



    Fließendes Wasser und Luft?

    Wie auch könnte sie hemmen



    Der Millionen Menschen



    Gedanken freier als der Wind?



    Willen tiefer als die Erde?



    Wünsche endloser als die Zeit?

    Berlin 22.5.1979