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Die langen Schatten der Katastrophe

Das neue Doku-Format „Die Narbe“ (NDR) behandelt auf sehr persönliche Weise die Langzeitfolgen von Katastrophen. Die ersten drei Folgen drehen sich um die Massenkarambolage im Sandsturm bei Rostock, das Zugunglück von Eschede sowie das Flugunglück von Ramstein. Statt der Bilder stehen Menschen im Mittelpunkt

Das Medienbild überlagert die Geschichten der Menschen dahinter: In der Sandwolke bei Rostock starben 2011 acht Menschen Foto: NDR

Von Wilfried Hippen

Kirsten Ettmeier wird ihre innere Ruhe wohl niemals wiederfinden. Und das wegen einer Entscheidung, die sie im Jahr 2011 in wenigen Sekunden getroffen hat. Damals steuerte sie eines der 80 Autos, die in der Nähe von Rostock in eine Sandwolke fuhren und zusammenstießen. Acht Menschen starben, 130 wurden verletzt. Eine davon war Kirsten Ettmeier, die lange brauchte, bis ihre schweren Verletzungen verheilten. Mit ihrem Schicksal hadert Ettmeier aber, weil sie auch als Täterin gesehen wird. Weil sie zu schnell in den Staub fuhr, wurde sie in einem aufwendigen Gerichtsverfahren wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Das Strafmaß war gering, denn auch dem Richter war klar, dass eine kleine Unachtsamkeit in keinem Verhältnis zu solch einer extremen Katastrophe steht. Neben Ettmeier haben die beiden Videojournalist*innen Mariam Noori und Willem Konrad auch den Richter befragt, wobei ein bemerkenswerter Satz fiel: „Recht hat selten etwas mit Gerechtigkeit zu tun.“ Aber dennoch sei Frau Ettmeier mit dafür verantwortlich, dass in dem Auto, auf das sie auffuhr, zwei Menschen starben.

Von den inneren Verletzungen jener, die bei großen Katastrophen traumatische Erfahrungen machten, wird in dem neuen Format „Die Narbe“ erzählt, dessen erste Folge „Der Sandsturm“ am kommenden Mittwoch um 21 Uhr im NDR-Fernsehen ausgestrahlt wird. In den späteren Episoden werden Menschen vorgestellt, die durch das Zugunglück von Eschede und den Flugzeugabsturz in Ramstein traumatisiert wurden.

Über all diese Katastrophen ist viel berichtet worden. Die Bilder des Zugwracks oder der brennenden Flugzeugtrümmer, die auf Menschen zustürzten, sind Teil des kollektiven Gedächtnisses. Man kann auch sagen: Sie sind in den Medien ausgeschlachtet worden und oft haben die Dokumentationen und Filmchroniken, in denen sie immer wieder gezeigt werden, einen sensationsheischenden Unterton, der die Zuschauer*innen zu Gaffern macht.

In den drei bislang gedrehten Folgen von „Die Narbe“ wird dagegen sehr sparsam mit dem Archivmaterial umgegangen. In der Ramstein-Folge geht das soweit, dass man ohne Vorwissen kaum einordnen kann, was genau an diesem Tag bei der Flugschau überhaupt passiert ist. Da wird vieles als bekannt vorausgesetzt, und dies zu Recht. Stattdessen liegt der Fokus auf den Protagonist*innen und darauf, wie ihr Leben auch heute noch durch ihr Trauma bestimmt wird. Die Filmemacher*innen sehen diese Geschichten immer auch exemplarisch: als Chancen, etwas über die Natur des Menschen zu erfahren, die sich in solchen Extremsituationen offenbart. So haben die drei Folgen jeweils eine andere, existentielle Fragestellung: im ersten geht es um Schuld, in der zweiten „Das Zugunglück von Eschede“ um Vergebung und in „Das Trauma vom Ramstein“ um Verarbeitung. Um die moralischen, psychologischen und philosophischen Tiefen dieser Traumata auszuloten, folgen auf die jeweils 30 Minuten langen Dokumentationen 15 Minuten lange Studiogespräche, die von NDR-Moderatorin Anja Reschke geführt werden.

Auf den Prominent*innen­bonus wollte der für das Format verantwortliche Redakteur Christian Brockhausen nicht verzichten. Bei der Folge über Ramstein ist der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz Bernhard Vogel (CDU) zu Gast, bei der zweiten Folge spricht Reschke mit der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands, Margot Käßmann. Diese eher konventionelle Auswahl von Medienprofis für die Gesprächsrunden ist auch eine Notlösung in der Corona­krise. Während die Filmbeiträge schon vor den Kontaktbeschränkungen gedreht und geschnitten waren, mussten die Gesprächsrunden zwischen März und Mai produziert werden, wo viele Wunschgäste nicht für die Aufzeichnungen nach Hamburg reisen konnten oder wollten. Auch die minimalistische Ausstattung des Studios ist den Verhältnissen geschuldet: Da alle Studios des NDR geschlossen waren, drehte das Filmteam der Hamburger Kunsthalle in einem grauen, fast leeren Raum. Allerdings: Die Kargheit ist dem Thema auch schon wieder angemessen.

Bei der Folge über das Bahnunglück in Eschede verwundert es ein wenig, dass keiner der 88 damals Schwerverletzten in der Dokumentation zu Wort kommt, während gleich beide Ex-Bahnchefs, Johannes Ludewig und Hartmut Mehdorn, zu den vier Protagonist*innen zählen. Sie weigerten sich, eine Schuld der Deutschen Bahn einzugestehen und sich bei den Opfern zu entschuldigen, was Annette Angermann, die beim Zugunglück ihren Bruder verlor, jahrzehntelang empörte. Dass sie ihnen schließlich doch verzeihen konnte, war vor allem für sie selbst ein großer, heilender Schritt.

Die individuellen Geschichten zeigen Extremsituationen, erzählen aber auch Grundsätzliches über den Menschen

Dass Hartmut Mehdorn hier zum ersten Mal öffentlich über das Unglück spricht, ist ein Coup, den sich keine Redaktion entgehen lässt. Seine Körpersprache, sein auffällig häufiges Schulterzucken, verrät dabei vielleicht mehr als seine wohlformulierten Sätze. Besonders traumatisiert wirkt keiner der beiden Machtmenschen, neben denen der Feuerwehrmann Michael Besoke, der auch heute noch von den Bildern und Gerüchen des Einsatzes heimgesucht wird, zur Nebenfigur wird – wohl auch, weil seine Geschichte nicht so gut zum Thema des Films „Vergeben“ passt.

Stimmiger ist dagegen das Konzept der bislang letzten Folge der Serie. Die Hauptprotagonisten sind Roland Fuchs, der 1988 das Unglück überlebte, in dem seine Frau und seine kleine Tochter starben und der Krankenpfleger Christopher Söhnlein, der erleben musste, wie viele der ihm anvertrauten Schwerverletzten in der Intensivstation starben. Über 30 Jahre lang hat er das verdrängt – er hat die traurigsten Augen von allen.

Erst im vergangenen Jahr hat er sich zu einer Therapie entschieden und einige dieser Sitzungen wurden für die Dokumentation gefilmt. Diese intimen Sequenzen wurden mit viel Feingefühl gedreht und sie wirken in keinem Moment übergriffig oder voyeuristisch. Und sie machen außerdem die filmischen Qualitäten dieses Formats deutlich. Die Dokumentationen wurden jeweils von zwei Personen gedreht, die sowohl die Autor*innen als auch Filmteam waren. Daraus entsteht eine für Fernsehproduktionen ungewohnte Nähe zu den Protagonist*innen. Und es ist mit diesem neuartigen Videojournalismus gelungen, mit dem Format „Die Narbe“ tatsächlich von den Menschen und nicht nur von den Katastrophen zu erzählen.

„Die Narbe“: Die drei Folgen werden in den kommenden Wochen, Start am 14. Oktober 2020, jeweils mittwochs um 21 Uhr in der ARD ausgestrahlt. In der Mediathek sind sie bereits verfügbar.

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