debatte: Es muss legal aussehen
Diktaturen sind Wahlen wichtig, um den Schein von Legitimität zu wahren. Das kann aber nach hinten losgehen, wie nicht nur das Beispiel Belarus zeigt
ClausLeggewie
ist Politikwissenschaftler und war bis2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Er ist Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.
Die Fälschung und Manipulation von Wahlen ist in Russland der Normalzustand. Vor den Regionalwahlen im September legte der Staat eine seltsame Nervosität an den Tag, als Alexei Nawalny sogenanntes kluges Wählen inszenierte. Der gegen die Präsidentenpartei „Einiges Russland“ jeweils aussichtsreichste Kandidat sollte gewählt werden, um zu demonstrieren, dass es überhaupt eine Wahl geben sollte. Warum reagierte der Kreml so dünnhäutig, bis zum Mordversuch, wenn er doch jede Möglichkeit hat, Kandidaten der Opposition von vornherein auszuschließen und unerfreuliche Wahlergebnisse zu fälschen? Man hat es mit einem Paradox zu tun: dass autokratische Regime, die Wahlergebnisse missachten, gleichwohl den urdemokratischen Wahlakt zulassen. Selbst die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die NSDAP hielten Scheinwahlen ab, um ihre Regimes mit 99-Prozent-Ergebnissen absegnen zu lassen. Personales Charisma oder totalitäre Kontrolle verschaffen offenbar nicht ausreichend Legitimität, der legale Schein musste das Übereinkommen mit dem Volk simulieren.
Es ist nicht erstaunlich, dass man bei Demokratie stets an den Grundmechanismus der Wahl denkt, als Anker des Mehrheitsprinzips: Kämpfe um das Recht, zu wählen, waren immer ein starker Motor demokratischer Bewegungen; es wurde, politisch-kulturell vielgestaltig, in den Verfassungen liberaler Demokratien verankert. Der Zensus, der nur gebildete und wohlhabende Männer zur Wahl berechtigte, wurde obsolet; Frauen, jungen Erwachsenen und in einem bestimmten Umfang auch Nicht-Staatsbürgern wurde das Wahlrecht etappenweise gegeben. Nach dem Sturz von Diktaturen war es stets das erste Ziel, freie, allgemeine, gleiche, geheime und faire Wahlen abzuhalten. Zu erinnern ist an die ersten Kommunal- und Landtagswahlen nach dem Ende der NS-Herrschaft und die erste freie Volkskammerwahl der DDR 1990. Und man hat die langen Schlangen von Wahlberechtigten vor Augen, die sich bei Premieren rund um den Erdball vor den Wahllokalen bilden.
In solchen Momenten kommt das Pathos freier Wahlen zum Ausdruck, das betagteren Demokratien abhandengekommen ist. Die Freiheit und Regelgerechtigkeit von Wahlen, ein voraussetzungsvoller Prozess, wird erst problematisch, wenn erste Einschränkungen des freien Wettbewerbs um Mandate und Mehrheiten erfolgt sind. Russland ist das beste Beispiel. Dort hatte nach 1991 unter dem Druck westlicher Denkfabriken oberste Priorität, Parteien bei Wahlen antreten zu lassen und stabile Regierungsmehrheiten zu bilden. Die Voraussetzungen des Übergangs zu einer Demokratie – Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Öffentlichkeit – waren kaum vorhanden; Manipulationen durch den alten Machtapparat und ein Rückfall in autokratische Strukturen waren die Folge.
Wahlen in dieser rohen Form werden zur „Tyrannei der Mehrheit“: Sie sind allgemein, frei und gleich, aber nicht transparent und fair. Die reguläre Aufstellung von Kandidaten, innerparteiliche Demokratie und neutrale Wahlbeobachtung gehören ebenso zum Wahlakt wie die ungehinderte Durchführung von Wahlkämpfen und unabhängige Medien. Und eine Wahl, deren Ziel oder Ergebnis die Drangsalierung und Unterdrückung der unterlegenen Minderheit und damit letztlich die Abschaffung der Demokratie ist, ist per se keine demokratische. Den Fluch der vermeintlich guten Tat, Wahlen abzuhalten, haben Autokraten kennengelernt: Die gefälschte DDR-Kommunalwahl von 1989 war ein Nagel zum Sarg des SED-Regimes. Die letzte, wie üblich manipulierte Präsidentschaftswahl in Algerien 2019, die Abdelaziz Bouteflika eine vierte Amtsperiode bescheren sollte, löste Dauerprotest im ganzen Land aus, den nur die Pandemie erlahmen ließ. Und zuletzt musste Alexander Lukaschenko in Belarus erfahren, dass eine dreiste Wahlfälschung den Aufstand provoziert.
Umso bedenklicher ist, wenn nun auch in klassischen und neu etablierten Demokratien das Wahlrecht durch alle möglichen Einschränkungen verzerrt und beschädigt wird. Die Ungerechtigkeiten des US-amerikanischen Wahlsystems sind bekannt: Der Präsident oder die Präsidentin wird indirekt über Wahlmänner gewählt, was dazu führt, dass Donald Trump, der bei den Wählerstimmen unterlegen war, ins Weiße Haus einziehen konnte. Dazu kommt die unselige Praxis der manipulativen Wahlkreiseinteilung. Trumps Reden lassen den 3. November 2020 als ein bedrohliches, nicht nur die US-Demokratie im Kern gefährdendes Szenario erscheinen.
Wo autoritäre Führungen unsicher werden, wie in Hongkong, verschieben sie Wahlen und nehmen dafür die Pandemie zum Vorwand – eine Tendenz, die auch in gefestigten Demokratien um sich greifen könnte. Ob es in Ungarn noch wirklich freie Wahlen gibt, darf man bezweifeln, da die Opposition mit allen legalen und außerlegalen Mitteln zum Schweigen gebracht wird; weder gibt es „Waffengleichheit“ in Wahlkämpfen, noch sind gesellschaftliche Gruppen und Interessen angemessen repräsentiert. Ungeachtet dessen – oder gerade deswegen – schaut die radikale Rechte in ganz Europa mit kaum verhohlener Bewunderung auf Viktor Orbán und plädiert für Plebiszite und direkte Volksabstimmungen, deren Ergebnisse Machthaber und Wirtschaftspotentaten nach Belieben manipulieren können.
PS: Kein Land hat ein perfektes Wahlrecht. Hiesige Defizite wie die Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse durch Überhangmandate monierte jüngst wieder das Bundesverfassungsgericht. Auch hat es in Deutschland sehr lange gedauert, bis Menschen mit kognitiven Einschränkungen an Wahlen teilnehmen durften und Behinderte barrierefreie Zugänge und Hilfestellungen im Wahllokal vorfanden. Und Inhaftierte können Briefwahl mittlerweile beantragen – es sei denn, sie hätten sich der Wahlfälschung schuldig gemacht.
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