: Ein Orkan zieht auf
Corona, Populisten und wachsende Ungleichheit – die Demokratie steht unter Druck. Zwei Bücher fragen nach dem Zustand unserer Regierungsform
Von Stefan Reinecke
Der Begriff repräsentative Demokratie stammt von Alexander Hamilton 1777, einem der Begründer der USA. Von damals führt kein gerader Weg ins Heute. Es gab keinen Bauplan. Die Demokratie ist in einem etwa 250 Jahre währenden windungsreichen Prozess von Versuch und Irrtum gewachsen.
Die Laboratorien waren bekanntlich vor allem Frankreich nach 1789, wo das Volk zum Akteur wurde, England, wo im Schneckentempo die Institutionen reiften, und die USA, wo unter anderem etwas damals komplett Obskures erfunden wurde: Parteien, die Wahlkämpfe inszenierten.
„Was heute selbstverständlich ist, war damals das Unwahrscheinliche“, schreibt Joachim Raschke, der die Entstehung des komplexen Systems der westlichen Demokratie mit Gewaltenteilung, checks and balances, Parteien, Fraktionen und Parlament skizziert.
Joachim Raschke: „Die Erfindung der modernen Demokratie“. Springer, Heidelberg 2020, 686 Seiten, 69,99 Euro
Raschke, seit 40 Jahren einer der einflussreichsten Parteienforscher, zeichnet verschlungene Bewegungen nach, zeigt hier die Zeit nach der Magna Charta 1215 in England, dort den Terror nach 1790, da den langwierigen Kampf für die Ausweitung des Wahlrechts und immer wieder die institutionellen Entwicklungen.
„Die Erfindung der Demokratie“ ist ein historisch-politologischer Essay und ein auf 700 Seiten recht ungewöhnliches Format. Das Essayistische, Fließende ist hier zudem unglücklich in das Korsett einer 23-teiligen, scheinbar systematischen wissenschaftlichen Studie gepresst, und so ist das Ergebnis eine Mixtur aus Opus magnum und Zettelkasten. Bei all den Pfaden, die hier beschritten werden, behält man nicht immer den Überblick.
Die Demokratie hält Raschke für einen abgeschlossenen Hausbau mit Grundwerten und einer Handvoll Prinzipien und Institutionen. Man kann also das Dach neu decken oder Fenster vergrößern, aber ein Haus ohne Dach und Fenster wird es nicht geben.
In den USA und Großbritannien begünstigt das Zweiparteiensystem den Aufschwung der Rechtspopulisten. Das Mehrheitswahlrecht, das lange Stabilität garantierte, entfalte in der Krise „ein extrem hohes Polarisierungspotential“.
Aber das ist Beschleuniger, nicht Grund. Vom Einsturz bedroht ist der Demokratiebau nicht wegen konstruktiver Mängel, sondern weil draußen ein Orkan aufzieht. „Nicht die Demokratie ist das Problem, sondern der Kapitalismus“ – die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit, die das Gleichheitsversprechen der Demokratie zunehmend pulverisiert.
Das sieht der Publizist Roger de Weck, verlässlich linksliberal, ähnlich. Der demokratische Staat steht unter Druck, weil er in der globalisierten, digitalen Marktwirtschaft das Kapital kaum noch einzuhegen vermag. Die Demokratien verlieren dabei jene Steuereinnahmen, mit denen sie sozialen Ausgleich finanzieren müssen. Wenn liberale Eliten zudem mit dem Kapital paktieren, ist dies der perfekte Humus für Rechtspopulisten, die, wie Trump, den neoliberalen Demokratie- und Staatsabbau noch beschleunigen.
Roger de Weck: „Die Kraft der Demokratie“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 326 Seiten, 24 Euro
Das ist der Kern dieser Schrift – es wird viel gewarnt vor den Rechtsautoritären, die es in neurechter Dialektik fertigbringen, das System zu sein, das sie zu bekämpfen vorgeben. „Die Kraft der Demokratie“ hat etwas von einem ausgeruhten Leitartikel. Man ist mit vielem einverstanden. De Weck wägt ab, bohrt aber nirgends in die Tiefe.
Das Interessanteste ist der Epilog, in dem gleich zwölf Vorschläge zur Rettung der Demokratie unterbreitet werden. Das reicht vom Stimmrecht für Jugendliche über mehr direkte Demokratie bis zu der Idee, mithilfe einer EU-Behörde Google und Facebook an die Leine zu legen. Und einen Umweltrat zu schaffen, der analog zum Finanzministerium ein ökologisches Vetorecht in der Gesetzgebung haben müsste.
Die letzten beiden sind inspirierende Ideen, um das Haus der Demokratie wetterfester zu machen. Leider nur als knappe Skizzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen