Verkehrsversuch auf der Friedrichstraße: Flanieren mit kleinen Hindernissen
Auf der Friedrichstraße erproben Senat und Bezirksamt die neue Autofreiheit. Fragt sich, wie gut Schlendern und zügiges Radfahren so zusammenpassen.
Am Samstagmorgen klingt Regine Günther im Radio ein bisschen so, als schrieben wir nicht das Jahr 2020, sondern 1978 – und als erklärte sie, warum es richtig sei, den mittleren Abschnitt der Wilmersdorfer Straße für den Autoverkehr zu sperren und zu Berlins erster Fußgängerzone zu machen. „Die Straße hat in den letzten Jahren massiv an Qualität eingebüßt, viele Geschäfte stehen leer“, beschreibt die grüne Verkehrssenatorin den Zustand einer bekannten innenstädtischen Nord-Süd-Achse. „Da einfach nur Autos durchfahren zu lassen“ sei konzeptlos und habe sich überlebt. „Wenn wir die Leute dazu animieren, länger zu verweilen und nicht einfach durchzuhasten, dann wird auch mehr eingekauft.“
Aber nein, die Zeit ist nicht wie in Christopher Nolans Blockbuster „Tenet“ rückwärtsgelaufen. Natürlich spricht Günther von den knapp 500 Metern Friedrichstraße, die an diesem Wochenende und noch bis Ende Januar zur „Flaniermeile“ werden. Worte, die genauso auch aus dem Munde einer Wirtschaftssenatorin stammen könnten, und tatsächlich unterstützt ja auch Kollegin und Parteifreundin Ramona Pop das Projekt nach Kräften.
Sicher hätte Regine Günther vor Ort gern noch ein paar Takte mehr gesagt – aber dann kommt es anders als geplant. Gegen 13 Uhr, als sie eigentlich mit Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel vor den Galeries Lafayette das amtliche „Go“ geben soll, hat sich an dieser Ecke einiges zusammengebraut: Hunderte skandierende Antifa werden von PolizistInnen in voller Kampfmontur daran gehindert, in Richtung Coronaleugner-Demo zu ziehen. Zwischenzeitlich wird sogar kolportiert, die Senatorin sei selbst in den Polizeikessel geraten, aber am Ende bleibt nur die Nachricht, man werde die Auftaktveranstaltung bald nachholen.
Dabei wird es eigentlich noch ein ganz netter Nachtmittag, nachdem die Ordnungsmacht die Protestierenden samt ihren trotzkistischen Fahnen und Anti-AfD-Plakaten über die „Safety Lane“ zur Leipziger Straße geleitet hat. Diese in der Mitte der Straße aufgebrachte, gelb gerandete „Lane“ dient Einsatzfahrzeugen ebenso wie RadfahrerInnen als Fahrspur, und schon rollen auch wieder viele Räder über den 4 Meter breiten Streifen. Die Sonne, die sich zuletzt rar gemacht hat, wärmt ein bisschen, und die Tische, die die beiden Filialen des Cafés Einstein auf die Fahrbahn gerückt haben, sind gut besetzt.
Verkehrsversuch Die „Flaniermeile Friedrichstraße" läuft bis Ende Januar, dann wird evaluiert – auch anhand von Verkehrsmessdaten, die an mehr als 40 Punkten in der Umgebung gewonnen werden.
Role Model Gleichzeitig sind schon neue autofreie Straßen im Gespräch. Senatorin Günther sagte dem RBB, ein Projekt auf Ku'damm und Tauentzien sei „in Arbeit", die Händler zwischen Adenauer- und Wittenbergplatz wollten den Straßenzug „vollkommen umgestalten".
Bergmann Den nächsten Schlag erlebt der Autoverkehr aber in Friedrichshain-Kreuzberg: Laut Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) übermittelt das Bezirksamt der BVV bis Ende September eine Vorlage in Sachen Bergmannstraße. Hier hatten BürgerInnen bei einer Befragung 2019 den weitgehenden Ausschluss von Pkws gefordert. (clp)
Viel mehr Gewerbetreibende trauten sich an diesem Tag aber noch nicht aus der Deckung, vielleicht liegt es am unübersichtlichen Demo-Geschehen. Immerhin, der dänische Einrichter boconcept hat ein paar schicke Outdoorstühle samt Werbematerial dort hingestellt, wo sich sonst Autos vor seinen Schaufenstern durch die Straßenschlucht schieben. Dass sich darauf keine potenziellen Kunden fläzen, sondern eine Gruppe Bubble Tea schlürfender Kids – das entspricht im Grunde dem Gedanken der Flaniermeile, in der explizit nicht jede Sitzgelegenheit mit einer Konsumpflicht verknüpft sein soll.
Wer braucht einen Saugroboter?
Zumindest sind viele Türen der anliegenden Händler weit geöffnet, und fast bekommt man beim Entlangschlendern Lust, einfach mal einzutreten – ungeachtet der gesalzenen Preise oder des fraglichen Nutzwerts von Edelstahl-Küchengeräten, Pralinen und Staubsaug-Robotern. Wann ist einem das zum letzten Mal auf der Friedrichstraße passiert?
Vielleicht liegt es auch an der freundlichen grünen Atmosphäre, die fünf Dutzend frisch aufgestellte Bäumchen verbreiten. Weil der Verkehrsversuch von begrenzter Dauer sein soll, stecken ihre Wurzeln nicht im Boden, sondern in Pflanzsäcken, die wiederum mit einer Bretterkonstruktion umnagelt sind. Je drei Stück bilden blätterbedachte Sitzgruppen, auf denen auch schon Leute hocken – sonderlich bequem sieht es allerdings nicht aus. „Ich habe meine Zweifel, dass die das überleben“, sagt ein Radfahrer, der an einem der Dreiecke angehalten hat, „hier in der Straße wird es einfach viel zu heiß.“ Natürlich meint er die Bäumchen.
Ob die Flaniermeile am Ende immer noch so aussieht wie jetzt, bleibt abzuwarten. Einerseits weil in Berlin erfahrungsgemäß nichts lange glänzt, wie die Schuhverkäuferin weiß, die gerade ein „Sale“-Regal vor den Laden schiebt: „Generell sollte man der Sache 'ne Chance geben“, findet sie, glaubt aber auch: „Wenn da jetzt immer viele Leute sind, wird das hier ziemlich schnell schmutzig sein.“ Sie zeigt auf die Sitzgruppen, die zur Erweiterung des Gehwegs installiert wurden, darunter auch die beiden Ur-Parklets aus der Kreuzberger Bergmannstraße.
Andererseits könnte es sich herausstellen, dass die neuartige Koexistenz von Radfahrenden und zu Fuß Gehenden nicht ganz so friedlich und ungetrübt ist wie erhofft. Kleinere Hinweise darauf gibt es am Samstag schon: Vor einem der Cafés sind mehrere Gäste mit ihren Stühlen gefährlich weit über den Rand der „Safety Lane“ gerutscht, denn so viel Platz ist links und rechts der Spur auch gar nicht. An einer anderen Stelle werden gemächlich Kreuzende ziemlich rüde aus dem Weg geklingelt. Wenn die einen flanieren und die anderen zügig durchkommen wollen, sind das nicht unbedingt kongruente Interessen.
„Im endgültigen Zustand wäre eine Safety Lane gegenüber dem Rest der Straße leicht nach unten abgesetzpt und damit auch haptisch erkennbar“, erklärt Stefan Lehmkühler vom Verein Changing Cities, der sich lange für das Experiment ins Zeug gelegt hat und jetzt mit zufriedener Miene in einem der Ausruhmodule sitzt. Mit einem anderen Punkt ist auch er nicht ganz glücklich: Weil der Biosupermarkt in der Kronenstraße von großen Lkws beliefert wird, die in der Seitenstraße schlichtweg nicht wenden können, gibt es Zeitfenster, in denen diese die Flaniermeile kreuzen dürfen.
Lieber noch langsamer?
Schnell zu ändern ist das wohl nicht, aber letztlich geht es dabei nur um einen Schönheitsfehler. Träte hingegen ein, was Verkehrssenatorin Regine Günther auch noch im Radio andeutete, wäre Unfrieden programmiert: Vielleicht stelle sich ja Tempo 20 für die Radelnden noch als zu schnell heraus, hatte sie da gesagt. Wenn, dann müsse man das weiter verringern. Sie hoffe aber, dass alle Rücksicht aufeinander nähmen: „Dann können wir es so lassen.“
Am Ende strahlen die meisten Gesichter mit der späten Augustsonne um die Wette, besonders an dem kleinen Stand, den die Grünen aufgebaut haben und wo man sich mit Sekt und Limonade zuprostet. Der Abgeordnete Georg Kössler ist – natürlich – mit dem Fahrrad da und sieht ebenfalls glücklich aus: „Endlich!“, sagt er. Die autofreie Friedrichstraße sei „ein Experiment mit offenem Ausgang, aber ich bin der festen Überzeugung, dass es angenommen wird“, sagt er. „Viele Leute werden mit der Zeit ihre Wege hierhin verlegen.“ Vielleicht kommt er ja selbst demnächst auch noch mal, und nicht nur zum Gucken: „Ich glaube, ich habe hier schon seit zehn Jahren nichts mehr gekauft.“
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