Sommerliche Kurzgeschichten

Illustration: Yvonne Kuschel

Das Meer
und die Liebe

Am Meer ist es passiert: der erste Kuss, die erste Liebe. Für einen Tag. Sie war 16 Jahre alt und dachte, das hört nie auf. Eine Kurzgeschichte

Sie wünschte sich,

auch sie würde am Meer wohnen,

um sich ihm

noch verbundener

zu fühlen

Von Franziska Seyboldt

Als im Autoradio die ersten Töne von „Dancing in the Moonlight“ erklangen, fuhren sie gerade durch die nachtschwarze italienische Schweiz. Sie saß auf der Rückbank und legte den Kopf in den Nacken. Bloß nicht heulen jetzt! Das war ihr Lied gewesen, vor zwei Wochen, vor zwei ewig langen Wochen. Vorne unterhielten sich leise ihre Eltern, hinter ihr lagen die Sommerferien, Elba und das Meer. Sie war 16 und würde nie wieder lieben können, das war mal klar. Außer natürlich Luca. Luca aus Genua, Luca mit den grünbraunen Augen, Luca, der alles war, was sie je wollte. Sie hatte nur einen Tag gebraucht, um das zu erkennen. Mehr hatten sie auch nicht gehabt: einen Tag, einen Kuss.

Kurz nachdem sie Luca in der kleinen Bucht vor dem Campingplatz kennengelernt hatte, stellte sich heraus, dass er schon am nächsten Tag wieder abfahren würde, was ihre Schockverliebtheit nur steigerte. Während in dem kleinen Bootsverleih das Lied des Sommers in Dauerschleife lief, hatten sie so schnell wie möglich versucht, so viel wie möglich übereinander zu erfahren. Leider konnte sie sich wegen seiner meerfarbenen Augen an kein Wort erinnern. Wohl aber daran, dass er sie später eingeladen hatte, am Abend zu seinem Zelt zu kommen, was ihre Eltern jedoch zu verhindern wussten. Jetzt saßen sie vorne im Auto, als sei nichts gewesen, zufrieden und urlaubssatt.

Sie erinnerte sich daran, wie sie sich am nächsten Morgen geweigert hatte, mit ihren Eltern an den Strand zu gehen, und vor dem Campingplatz Stellung bezogen hatte, bis Luca mit einem großen Rucksack auftauchte. Sie erklärte, er beruhigte, sie küssten sich, oh, und wie sich sich küssten! Schließlich war Luca auf seine Vespa gestiegen und nach Genua gefahren. Vorher hatten sie Zettel ausgetauscht mit ihren Adressen und dem Versprechen, sich zu schreiben. Dass Alfredo, Alberto oder Angelo – sie hatte seinen Namen sofort wieder vergessen – ihr am Abend eine Pizza Hawaii in Herzform an den Tisch brachte, linderte ihren Schmerz kein bisschen, lehrte sie aber immerhin, dass sich ein gebrochenes Herz mit Ananas und Schinken nicht flicken lässt.

Wieder zu Hause fand sie einen dünnen Umschlag im Briefkasten, auf dem links oben ein blauer Hinweis klebte: Posta Prioritaria. Von da an schrieben sie sich regelmäßig. Sie in ihrem Kinderzimmer, an dem dunklen Holztisch mit der Schreibtischschublade, in der sie ihre Tagebücher versteckte, er auf dem Bett unter einem Poster von Alessandro Del Piero, bei offenem Fenster und wehenden Vorhängen. So stellte sie es sich vor. Die Italienseite im Schulatlas schlug sich mittlerweile von alleine auf, so oft betrachtete sie seine Heimat am oberen Knick des Stiefels. Genua, die Hafenstadt. Sie wünschte sich, auch sie würde am Meer wohnen, um sich ihm noch verbundener zu fühlen, aber vorerst besprühte sie ihre Briefe mit Cool Water von Davidoff, das musste reichen.

Manchmal schrieb sie ihm auf Italienisch, obwohl sie es nicht konnte. In dem dicken grünen Wörterbuch ihrer Mutter schlug sie jedes Wort einzeln nach: bramosia, insieme, a presto. Er antwortete auf Deutsch: Ich betrachtete dir immer Deutschland ein bedeutungsloses Dorf (dich nicht beleidigen) bevor kennen aber jetzt danke ich lernte, ihn schätzen dir! Sie malte sich die Lippen rot und küsste das Papier, er schrieb einen Songtext. Sie erklärte ihm das deutsche Schulsystem, er schickte endlich ein Foto. Sie versprachen, sich zu besuchen. Bald, schrieben sie. Er fuhr mit der Klasse nach Prag, sie nach Paris. Im nächsten Urlaub, schrieben sie. Er fuhr mit seinen Freunden in die Berge, sie ans Meer. Okay, aber im nächsten ganz sicher. Er machte den Führerschein, sie einen Tanzkurs. Sie sahen sich nie wieder.

Die Liebe
und das Meer

Später, viel später war sie wieder am Meer. Statt der Liebe suchte sie Steine. Der Hühnergott – ein Traum. Doch wieder traf sie ein Blick. Eine Kurzgeschichte

Sie steht im seichten Wasser, das ihre Knöchel eisig umspielt, und hält Ausschau

Von Waltraud Schwab

Als sie den Stein aufhebt am Strand der Ostsee, zwanzig Jahre später, in den Osterferien war es, diesen Stein, der ihr im Wasser noch so verheißungsvoll erschien, schwarz glänzend mit weißen Zeichnungen, ein Götterstein, da steht die Zeit still. Sie bückt sich, greift ins Wasser, das weich und kalt ist, aber schon so, dass sie versucht ist, sich auszuziehen, versucht ist, hineinzurennen ins Meer und einzutauchen für einen Moment. Tags zuvor hat sie zwei Frauen gesehen, die es taten, und sie beneidet.

Sie immerhin hat die Schuhe ausgezogen, läuft barfuß. Sie nimmt den Stein, wäscht ihn im hereinkommenden Wasser. Es ist ein Spiel, denn manchmal ist das verbliebene Weiß auf dem schwarzen Grund wie eine Zeichnung, und was zu sehen ist, ist ein Orakel. Der Stein, birnenförmig, mit einem Hohlraum am einen Ende und einer Ausstülpung am anderen, sieht, findet sie, wie weibliche und männliche Geschlechtsteile aus, und sie sagt „Ha, Penis“, dreht ihn, „Ha, Vagina“. Sie lacht, weil sie, Obstliebhaberin, bei einer Birne lieber an den süß-milden Geschmack und die zuckrige Flüssigkeit, die ihr beim Hineinbeißen aus den Mundwinkeln tropft, denkt, nicht an Geschlechtsteile. Der Stein, meint sie, stelle eine Verschmelzung dar, nur auf eine kranke Weise, da Penis und Vagina nicht zueinander, sondern voneinander weg zeigen.

Eigentlich findet sie es öde, sich in allem ins Geschlechtliche zu denken: Phallus, gezackte Höhle, Weltliteratur, Quatsch. Nur ist es jetzt so passiert. Und während sie noch über das Steinorakel sinniert, weitergeht, Ausschau haltend nach dem nächsten Stein, weil ihr dieser zu wenig in ihr Leben passt, zu wenig das zeigt, was sie angezeigt haben will, was soll es für ein Orakel sein, Sex, misslungene Verschmelzung, sie hat keine Lust darauf. Lust auf Zweisamkeit ja, aber ihr Muttersinn ist nicht groß – obwohl sie nun schon weit über dreißig ist. Weil sie aber nicht daran glaubt das Schicksal beeinflussen zu können, ist ein Orakel immer nur ein Beispiel für Zukunft. Ein anderer Stein weist in eine andere Richtung. Sie steht im seichten Wasser, das ihre Knöchel eisig umspielt, hält Ausschau und merkt, dass sie beobachtet wird. Von einem Mann. Sie merkt es, bevor sie es sieht. Ihr Körper hatte sich angespannt wie unter einer ungewollten Berührung.

Groß, dunkle Haare, offenes Gesicht. An seinem Blick, der direkt auf sie gerichtet ist, nicht jedoch ihren Körper abtastet, sondern ihre Augen sucht, erkennt sie, dass er sie schon eine Weile beobachtet. Sein Blick ist neugierig, auf eine freundliche Art. Das ist unerwartet. Unsicher dreht sie sich wieder dem Wasser zu, geht weiter, will weiter nach Steinen suchen, die Orakel sind, und ist doch abgelenkt. Dass sie beobachtet wird, elektrisiert sie.

Jetzt unsicher, weil beobachtet, greift sie wieder ins Wasser, findet einen Stein, in dem sie das Gesicht eines Froschs erkennt, breiter Mund, große, hervorstehende Augen. Und? Keine Idee, was er bedeutet. Doch, „Froschkönig“, sie verwirft ihre Gedanken, weil sie sich schon gefangen fühlt.

Sie wirft den Stein zurück, greift nach einem anderen, die Zeichnung darauf sieht wie eine Zigarette aus, von der Rauch aufsteigt, uninteressant findet sie, einer mit einem Kreuz ist ihr zu düster, und am liebsten hätte sie einen Hühnergott gefunden, einen Feuerstein mit Loch, weil der Hühnergott gegen Kikimora, den weiblichen Poltergeist, schützen soll. Das zumindest sollen slawische Völker gemeint haben vor langer Zeit. Sie hat es auf Wikipedia gelesen. Dabei war Kikimora in Wirklichkeit eine Verwunschene, eine, der man ihre Göttlichkeit genommen hat.

Da kommt der Mann auf sie zu und fragt, ob sie den Hühnergott will, den er gefunden hat, und zeigt ihr einen mit einer Zeichnung, die an einen Fisch erinnert. Er liegt auf seiner offenen Hand.