: Neu im DVD-Regal: Soziale Gerechtigkeit
Hier traurig, ernst und ehrlich – dort lustig, aber gestellt: der neue Anti-Hartz-IV-Sozialkundefilm „Neue Wut“ von Martin Keßler und die US-amerikanische Agitprop-Show „The Awful Truth“ von Michael Moore
VON STEFAN KUZMANY
Der Mann hat eine solche Wut, er kann kaum noch klar sprechen. „Jetzt sollen wir Sozialhilfeempfänger sein? Wir sind keine Sozialhilfeempfänger! Wir haben unser ganzes Leben lang gearbeitet!“ August 2004 in Magdeburg. Die Anti-Hartz-IV-Montagsdemonstranten marschieren durch Ostdeutschland und über die deutschen TV-Bildschirme. Der Dokumentarfilmer Martin Keßler ist von Anfang an dabei. Er begleitet Andreas Ehrholdt, den Initiator der Montagsdemos in Magdeburg. Er beobachtet, wie Barbara Willmann, eine arbeitslose Bankangestellte aus Frankfurt am Main, ihren Hartz-IV-Fragebogen ausfüllt. Er befragt den Jesuiten und Wirtschaftswissenschaftler Joachim Hengsbach. Und spricht mit Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD). Über ein Jahr hat Keßler seine Protagonisten begleitet, dabei 150 Stunden mit seiner Mini-DV-Kamera gedreht. Jetzt ist sein Film „Neue Wut“ fertig. Ein Fernsehsender, der ihn ausstrahlen will, hat sich noch nicht gefunden. Keßler vertreibt seine Dokumentation über seine Homepage www.neuewut.de und zeigt ihn auf Attac-Veranstaltungen und in Kinos. Heute Abend hat „Neue Wut“ Premiere im Cinestar Metropolis in Frankfurt am Main. Es ist ein trauriger Film geworden.
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Die Jungs haben eine Menge Spaß. Nicht nur gerade jetzt, da sie von Michael Moores Kamerateam bei einem kleinen Wettkampf gefilmt werden – wohl auch sonst im Leben: es sind Börsenmakler und Fondsmanager an der New Yorker Wallstreet. Bevor es losgeht, berichten sie stolz von ihrem Jahresverdienst, jeweils mehrere Millionen Dollar. Es tritt an: das Team „Dow Jones“ gegen das Team „Nasdaq“. Das Spiel heißt „Dump the homeless!“ – „Versenke den Obdachlosen!“. Wer als Erster mit seinem Ball in die Mitte der Zielscheibe trifft, löst damit einen Mechanismus aus, der einen Obdachlosen in einen Wasserbottich abstürzen lässt. Getroffen! Platsch! Da fliegt der Obdachlose! Großes Gelächter. Die Szene ist Teil der Fernsehserie „The Awful Truth“ („Die schreckliche Wahrheit“) von Michael Moore, gesendet in den Jahren 1999 und 2000 im amerikanischen Fernsehen, jetzt neu auf dem deutschen Markt, zu haben im DVD-Fachhandel.
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Die beiden Produktionen, entstanden zu ganz unterschiedlicher Zeit, mit völlig unterschiedlichen Budgets und in verschiedenen politischen Systemen, verbindet – bis auf die Tatsache, dass sie sich nun in Deutschland zufällig gleichzeitig im Angebot befinden – nur ihr Hauptanliegen: den Kampf für soziale Gerechtigkeit auf ihre eigene Art zu dokumentieren und voranzubringen. Der Vergleich der Methodik ist aufschlussreich.
In Deutschland, so scheint es nach Betrachtung der beiden Werke, ist die Linke ein vor allem von tiefem Ernst getriebenes Projekt, man möchte fast sagen: getrieben von Trauer, Verbissenheit – und Ehrlichkeit. In Michael Moores Darstellung der amerikanischen Linken geht es wesentlich spaßiger zu – allerdings bekommt Moore niemals eine echte Volksbewegung vor die Kamera. Die Aktionen hat er sich sämtlich selbst ausgedacht, um sie dann abzufilmen. Fiktiv, aber unterhaltsam dort – real, aber bieder hier.
Wenn Barbara Willmann ihren Hartz-IV-Bescheid ausfüllt und schon mal ausrechnet, wie viel weniger sie in Zukunft auf ihrem Konto haben wird (sie kommt auf 120 Euro, später sind es dann zum Glück doch nur 50 Euro weniger), dann hören wir die in deutschen Dokumentarfilmen allgegenwärtigen Klänge eines einsamen, tristen Klaviers. Pling-Plang macht das Klavier, und wir ahnen: die Zukunft sieht düster aus. Wenn Michael Moore die Präsidentschaftskandidaten auf ihre Volksnähe testen möchte, dann schickt er ihnen einen zu einem mobilen „Mosh-Pit“ umgebauten Lastwagen vors Haus. Wer von den Kandidaten es wagt, in die wild tanzende Menge zu springen, die auf der Laderampe tanzt, der bekommt eine Wahlempfehlung von „The Awful Truth“. Tatsächlich sagt die Bereitschaft eines Präsidentschaftskandidaten zum Pogo-Tanz wenig über seine politischen Inhalte aus. Andererseits: das fahrende Mosh-Pit war Tagesgespräch in den amerikanischen Medien. Als die Menschen hier ihre Hartz-Bescheide bekamen, hatte der Protest den Zenit seiner Medienpräsenz längst überschritten.
Es ist die bedingungslose, manchmal biedere Ehrlichkeit, die Martin Keßlers Film die politische Schlagkraft nimmt, ihn aber dafür umso glaubwürdiger macht. Er sieht sich, sagte Keßler im taz-Interview, als Journalist mit Sympathie für die Protestler – nicht als „Agitprop-Filmer“. Wohl auch deswegen gibt es in „Neue Wut“ Szenen zu sehen, die seinen Protagonisten kaum gefallen können, weil sie die Bewegung nicht im besten Licht stehen lassen. Keßler beobachtet die Entwicklung des Protest-Initiators Andreas Ehrholdt schonungslos. Am Anfang: die ehrliche Haut, der Mann, der endlich etwas tun möchte gegen die zunehmende (und eigene) Verelendung. Der gefeierte Held der Machtlosen. Dann die Wandlung Ehrholdts im Licht des Medieninteresses. Die Kleidung verändert sich. Und seine Äußerungen werden phrasenhafter. Am Ende gründet er eine eigene Partei: „Freie Bürger für Soziale Gerechtigkeit“ (FBSG). Das Wetter wird schlechter, immer weniger Menschen wollen mit ihm montags marschieren, es gibt immer mehr Streit, auch um die Selbstdarstellung Ehrholdts. Die Proteste werden von den Ideologen der MLPD, der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, vereinnahmt und ebben schließlich ab. Die Frankfurter Arbeitslose Barbara Willmann wird sich arrangieren mit ihren 50 Euro weniger, trotz trauriger Klavieruntermalung.
Am greifbarsten, weil direkt vergleichbar, sind die Unterschiede in Keßlers und Moores Umgang mit den wirklich Mächtigen. Es ist die typische Situation: der Politiker inmitten eines Kamerapulks. Der Dokumentarfilmer pirscht sich heran. Moore verpasst es in solchen Situationen nie, dem Mächtigen eine freche Frage zuzurufen: „Mister Bush, warum haben all diese Leute ihre Arbeit verloren?“ George W. Bush, damals noch Gouverneur von Texas, antwortet selbstverständlich nicht, ruft Moore nur zu: „Geh dir eine richtige Arbeit suchen!“ Schnitt. Wir sehen Michael Moore in einer Telefonzelle im Gespräch mit seinem Vater: „Kannst du mir bitte einen Job in einer deiner Ölfirmen besorgen? Oder ein eigenes Baseballteam?“ Vater Moore reagiert verständnislos. Als Keßler den Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dessen Sommerfest im Kanzleramt filmt, nähert er sich zwar, kommt ganz nahe heran an den Hauptverantwortlichen für Hartz IV – aber bleibt stumm. Mit Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement hat Keßler einen Interviewtermin. Auf die braven Fragen antwortet Clement professionell. Er ist der Mann, der am Ende des Films den besten Eindruck hinterlassen wird.
Im Frühjahr 2005 waren die Dreharbeiten zu „Neue Wut“ abgeschlossen. Es ist ein Sozialkundefilm geworden über eine Bewegung von benachteiligten Bürgern, aus der eine PDS mit neuem Namen und dem Duo Gysi und Lafontaine an der Spitze geworden ist. Andreas Ehrholdt ist da nicht mehr dabei – er zieht zurzeit mit einem Handwagen durch die ostdeutschen Lande und will „an das Gewissen der Menschen appellieren“.
Auch das Moore’sche Werk ist letztlich traurig: In Amerika ist George W. Bush trotz aller propagandistischen Anstrengung zum zweiten Mal Präsident geworden. Und um Moore ist es sehr still.
Martin Keßler: „Neue Wut“(D 2005), 90 Minuten, DVD, zu bestellen unter www.neuewut.de für 27,50 €, Studenten und Arbeitslose zahlen nur 17 €ĽMichael Moore: „The Awful Truth“ (USA 1999/2000), Collection 1 & 2, jeweils 2 DVDs, ca. 19 €
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