: Aus der Lunge geschrien
MUSIK Der kalifornische Musiker Ty Segall überzeugt mit seinem Live-Set. Das Bemerkenswerte: Das Glatte und das Raue bilden bei ihm keinen Widerspruch
„Wenn du Musik spielst und auf der Bühne stehst, heben die Leute dich manchmal in den Himmel und das kann viel mit deinem Kopf machen. Und was, wenn er dann tatsächlich explodieren würde während einer Show?“
Was der kalifornische Musiker Ty Segall gegenüber einem Journalisten der amerikanischen Wochenzeitung SF Weekly erwähnte, kann auch als programmatisch für seine Live-Auftritte gelten. Dies beweist Segall auch am Montagabend im Festsaal Kreuzberg. Da fliegen nicht nur die Bierflaschen und Beine in der Menge umher, sondern dort wälzen sich vor allem auch vier Musiker in einem ekstatischen Live-Set aus Garagepunk, Psychrock und Pop.
Ty Segall ist gerade einmal Mitte zwanzig, was über seine musikalische Vergangenheit staunen lässt: Neben Aktivitäten in verschiedenen Bands der San Fransisco Bay Area umfasst seine eigene Diskografie bereits unzählige Veröffentlichungen. Das letzte Album erschien im Juni, das folgende diesen Herbst.
Ein Werk scheint für den Musiker nur den Schritt zum nächsten zu bedeuten, was nicht heißt, dass nicht jedes musikalisch einzigartig wäre. Letztes Jahr überraschte er noch mit einem ungewohnt ruhigen Songwriter-Album und warmherzigen Melodien, zuletzt erschien mit „Slaughterhouse“ ein Garagepunk-Ungeheuer, das so verzerrt und rau ist, dass es die Grenze zum unhörbaren Noise an einigen Stellen mutwillig übertritt.
Heute umschifft die Band diesen Eindruck geschickt. Wenn Ty Segall und seine Band auf der Bühne lärmen und gellen und sich dabei aus den krachigen Gitarrenriffs immer wieder selbstbewusste Harmonieläufe herausschälen, wäre es zu wenig, das Garagepunk zu nennen.
Sicher nimmt die Musik ihre Energie auch aus dem, was die Stooges schon 1973 „Raw Power“ genannt haben: eine schnörkellose, verzerrte Gitarre, ein ungestüm vorpreschendes Schlagzeug und ein plötzlich in ungezügeltem Kreischen ausbrechender Gesang. Wichtiger ist jedoch, dass sich die Musik in diesem Ansatz nicht erschöpft. Segalls Stimme ergibt sich immer wieder auch eingängigen 60ies-Popmelodien, die im richtigen Moment durch ausufernde Verzerrungen gebrochen werden.
Da kann ein Song mit reinen Beach-Boys-Chören unschuldig beginnen, nur um dann völlig unter Gitarrengewitter begraben zu werden. Das ist das Bemerkenswerte an dieser Band: Das Glatte und das Raue bilden keinen Widerspruch mehr. So überlistet Ty Segall die stilbildende Simplizität des Garagepunk und erweitert seine Grenzen.
Die Band bildet dadurch die Spitze einer sich um San Francisco formierenden Garagepunk-Renaissance, die Künstler wie Mikal Cronin, Sic Alps oder Thee Oh Sees umfasst. Alle locken sie nicht nur mit einem Versprechen nach wildem Rock ’n’ Roll, sondern vor allem mit Melodien, die gefällig und unbequem zur gleichen Zeit sind.
Natürlich schwingt in dieser musikalischen Herangehensweise ein eklektizistischer Ansatz mit und Ty Segall erzählt gerne, wie er von den Metalbands, die seine Mutter mochte, von Iron Maiden zu Black Sabbath kam, gleichzeitig die Animals oder die Kinks hörte und später US-Hardcore. All diese Einflüsse tragen zu dem Sound seiner Musik bei, der dennoch ein Erweckungserlebnis ist.
Denn bei allem musikalischen Vorreitertum, das diese Bands geleistet haben, können sie eines nicht ersetzen: diesen großen Ideenreichtum, diese mitreißenden Melodien, die sich der Blonde da vorne aus der Lunge schreit und die alle im Publikum tanzen lassen und glücklich machen.
LISA FORSTER
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