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Unzählige Verästelungen

Das Sprengel Museum zeigt erstmals Werke des Deutschen Albert Oehlen und des US-Amerikaners Caroll Dunham in einer Ausstellung. Beide schätzen einander für ihren Hang zur Provokation – und als Maler von Bäumen. Von denen gibt es in Hannover viele zu sehen

Cartoonhaft: Carroll Dunhams „New Time Storm“ Foto: Courtesy of the artist and Gladstone Gallery, New York and Brussels © Carroll Dunham

Von Bettina Maria Brosowksy

Es scheint wie die Kunst zur frisch erwachten Naturliebe im Corona-Sommer, was das Sprengel Museum in Hannover derzeit in seiner großen Ausstellungshalle auffährt: Bäume, in vielen Variationen. Die Bildnisse stammen von zwei Künstlern, dem Deutschen Albert Oehlen, Jahrgang 1954, und dem etwas älteren US-Amerikaner Carroll Dunham, geboren 1949. Beide haben ihre künstlerische Prägung in den 1980er-Jahren erfahren und zählen international, wie das Sprengel Museum verlautbart, zu den wegweisenden Impulsgebern für nachfolgende Generationen. Sie zeichnen sich zudem durch eine mediale sowie thematische Vielfältigkeit und enorme Produktivität aus. Und: Beide schätzen einander für ihren Hang zur Provokation und sehen im jeweiligen Kollegen „den wahrscheinlich besten Baum-Maler der Welt“.

Erstmals widmet das Sprengel Museum Hannover als Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Düsseldorf den beiden Künstlern nun eine gemeinsame Ausstellung. Dafür wird die Ausstellungshalle der Länge nach von einer imaginären Spiegelachse durchmessen, so dass in der Raummitte immer Werke beider aufeinandertreffen oder nebeneinander hängen, während die Seitenräume die thematische Auseinandersetzung des einzelnen Künstlers vertiefen.

So finden fast 380 Werke beider aus Schaffensperioden der letzten drei Jahrzehnte bis hin zu ganz neuen Arbeiten zusammen, darunter mehr als 20 großformatige Öl- und Acrylmalereien, die das Hallenvolumen wahrlich zu füllen vermögen. Dazu kommt ein langer, ondulierender Baum-Paravent von Oehlen als große Installation. Faszinierender als die schiere Dimensionsgewalt aber ist die Fülle kleinformatiger Zeichnungen, Skizzen oder Collagen beider Künstler. Sie verrät viel über die jeweilige Arbeitsweise, die künstlerische Entwicklung oder kunsthistorische Bezugnahmen.

Albert Oehlen studierte von 1977 bis 1981 an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg bei Sigmar Polke, er gehörte zum Umfeld der „Neuen Wilden“, jener deutschen Spielart des Neoexpressionismus, und arbeitete auch mit Martin Kippenberger oder Jonathan Meese. Ab 2000 lehrte er für neun Jahre als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Seine expressive Malweise, gern auch als figuratives „bad painting“, mutierte im Laufe der Jahre zu einer Abstraktion, die fast signetartig nur noch das Wesen eines Motivs, in diesem Fall des Baumes, zu ergründen versucht.

Großformatige Radierungen, die den Beginn des Rundgangs bilden, erzählen noch von den unzähligen Verästelungen des Baumes in seiner Krone und dem Wurzelwerk. Diese Strukturen werden dann immer weiter reduziert, große farbige Flächen, per Rakel aufgestrichen oder auch gesprüht, kommen hinzu, um 2017 verfremden zudem aufgelegte Felder aus rosa Luftpolsterfolie die Szenerien.

So verflüchtigt sich in der Choreographie des Rundgangs durch Oehlens große Arbeiten das Thema Baum fast vollständig, es wird grafisches Rudiment, ist am Ende vielleicht nur noch die Ahnung in einer dekorativen und repetitiv erscheinenden Massenware. Seine Skizzen hingegen bleiben dem Thema treu: Wie Scherenschnitte erscheinen seine dunklen Baumgestalten oder auch belebt, ähnlich Spinnentieren.

Ist das noch ein Baum? Bei Albert Oehlen verflüchtigt sich das Thema im Lauf der Jahre Foto: Courtesy of Warwick Collection, Saint Helier

Ganz anders verläuft der Weg von Carroll Dunham. Nach seinem Abschluss, 1972 am Trinity College in Hartford, Connecticut, entwickelte er sukzessive aus einer organisch-abstrakten Formensprache eine fantastische, surrealistisch anmutende Bildwelt. Seit 2005 malt Dunham nun seine Baumbilder, er konzentriert sie auf massige Volumen aus dunklen Stämmen und blockhaftem, intensivfarbigem Grün. Details aus bunten Blüten und durchäderten Blättern differenzieren Teilbereiche, lassen an Finger oder Gliedmaßen denken. Sie verleihen den Bildern so einen deutlichen Schuss naiver Malabsicht oder grotesker Ästhetik des Cartoons.

Und wieder sind es eher die transparenten Aquarelle und die vielen kleinen Bleistiftzeichnungen, die einen in Dunhams unendliche Variationen physischer Baumgestalten eintauchen lassen. Mal sind sie windzerzaust, mal abgestorbene Stümpfe oder gerade gefällt, oder ihr Grün wird zur kastenförmigen Physiognomie – allesamt erscheinen sie animistisch beseelt.

Beide Künstler exerzieren exemplarisch am Motiv des Baumes also ihre individuelle Evolution der Kunst. Dabei schwingen Reminiszenzen der Kulturgeschichte und der Ikonografie mit, so der biblische Baum der Erkenntnis, die Naturliebe der Romantik auch für den pittoresken Einzelbaum oder die radikal-moderne Fragmentierung des Vegetabilen durch Piet Mondrian. Und um nochmals das Sprengel Museum wiederzugeben: Am Ende wird der Baum zum Experimentierfeld künstlerischen Suchens und der unermüdlichen malerischen Erneuerung, so wie es die Natur selbst immer wieder vorgibt.

„Albert Oehlen, Carroll Dunham: Bäume, Trees“: bis 18. Oktober, Hannover, Sprengel Museum

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