Coronazeit ist Campingzeit: Bewegung macht ruhig
Selbstbestimmt, flexibel, spontan und schön in der Natur. Der Trend zum Campen und Camper ist nicht nur zu Coronazeiten im Aufwind.
Ausbüchsen. Rausgehen. Wegfahren. Der Trend im Outdoorbereich ist das Mikroabenteuer. Seit einigen Jahren propagiert der Brite Alastair Humphreys den bewussten Ausbruch aus der Komfortzone. Er selbst wanderte mit einem Freund entlang des Autobahnrings einmal um London herum. Das klingt eher bescheuert als prickelnd.
Mikroabenteurer sind für den Tourismus schwierige Konsumenten, denn für Pauschalarrangements sind sie schwerlich zu begeistern, geschweige denn für Massentourismus auf Kreuzfahrten. „Kurz, einfach, lokal, günstig, trotzdem aufregend“, so fasst Christo Foerster das Mikroabenteuer zusammen. Und plädiert für „einfach rausgehen und machen“. Foerster ist das deutsche Gesicht dieser Outdoorfans. Er gibt Tipps im Magazin Walden von GEO, das für Nahziele motiviert und sich einer eigenen Ästhetik verschrieben hat, die das Möbelbauen im Waldcamp so attraktiv macht wie die neue Camperküche oder Paddeln auf heimischen Seen.
Campingabenteuer reloaded
Aus England kam vor einiger Zeit die Cool-Camping-Bewegung. Ihr ging es um eine Art Rückeroberung des ursprünglichen Campingabenteuers. Von der Verschrebergärtnerung der klassischen Campingszene grenzte man sich ab. Seither werden alte Geheimtipps lanciert. Der Ratgeber „Sensationelle Plätze zum Zelten“ ist auch in Neuauflagen ein echter Hingucker geblieben und die ausgesuchten Plätze in ganz Europa sind durchweg einzigartig, sowohl was Lage als auch Experimentierfreudigkeit ihrer Betreiber und das Ambiente angeht.
Camping
Aktuell ist die Lage coronabedingt kompliziert. „In jedem Bundesland, teilweise sogar auf Landkreis-Ebene sind die Regelungen für Campingplätze unterschiedlich und ändern sich alle paar Tage“, sagt Christian Günther, Geschäftsführer des Campingverbandes BVCD. „Wir kommen selbst nicht mehr hinterher mit der Übersicht.“ Die Bandbreite reiche von Hessen, wo nur die gängigen Hygieneregeln und Masken in geschlossenen Räumen vorgeschrieben seien, bis hin zu Schleswig-Holstein, wo die Duschen in den Sanitärgebäuden auf Campingplätzen geschlossen sind. Der Verband rät deshalb, beim jeweiligen Campingplatz direkt anzufragen.
Hilfreiche Apps
Neben den Klassikern der Camping-/Stellplatzsuche von ADAC und Promobil empfiehlt sich park4night; unter Weltreisenden im eigenen Fahrzeug ist die Universalapp iOverlander beliebt. Landvergnuegen (nur in Verbindung mit einer gültigen Mitgliedschaft) ist wichtig für die Stellplatzsuche auf landwirtschaftlichen Höfen mit Direktvermarktung. Wer gern wandert und radelt, hat eine große Auswahl. Schön und gut zu bedienen ist die mapout.app. Für mehr Freizeitaktivitäten und aufwendige Tourenplanungen empfiehlt sich outdooractive.
Aus Frankreich wurde eine Idee für Bio- und Landfreunde übernommen: „Landvergnügen“ geht auf das erfolgreiche „France Passion“ zurück und meint damit kostenlose Stellplätze auf Bauern- und Gutshöfen oder Weingütern mit Direktvermarktung. Einzige Vorbedingung: der Erwerb des Stellplatzführers, der auch eine Jahresvignette für den Campervan beinhaltet.
Nie war es unkomplizierter, ins Freie auszubüchsen, nie war die Lust auf Outdooraktivitäten außerhalb des organisierten Tourismus größer. Denn die Infrastruktur ist gut. Sei es für Wanderer, sei es für Radler oder auch für Camper. Etwa die Radwege an jedem kleinen Fluss für ausgedehnte Touren oder die Wanderwege durch die geschützten Gebiete der Natur- und Nationalparks und selbst durch die besiedelte Landschaft, wie auf den inzwischen zahlreichen Jakobs-Pilgerwegen.
Die Campingbranche wächst
Oder hinsichtlich der Stell- und Campingplätze. Wohnmobile sind auf Frischwasserzufuhr und auf Entsorgungsstationen für Brauchwasser und Toiletten angewiesen, auf Gasflaschenwechsel und in der Regel auch auf Strom – wenn man keine Solaranlage spazieren fährt.
Die Zuwächse der „Freizeitfahrzeug“-Branche sind insgesamt traumhaft. Die verzeichnete zuletzt ein Umsatzplus von über 9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Derzeit sind in Deutschland circa 1,2 Millionen dieser Fahrzeuge zugelassen. Caravans, also Anhänger, stellen davon noch etwas mehr als die Hälfte, aber bei den Neuzulassungen haben die „Womos“ nach Angeben des Caravaning Industrie Verbandes die Nase schon weit vorn. Letzte Umfragen sagen, dass über 14 Millionen Deutsche mit der mobilen Reiseform liebäugeln. Unter den „Millennials“ sollen es sogar 23 Prozent sein.
Es sind nicht die Rentner, die den Womo-Markt maßgeblich befeuern. Die Bewegung zum Camper geht von der Enkelgeneration aus. Und so heißt der neueste Trend im Outdoorsektor nun „Vanlife“. Leicht zu orten auf Büchertischen mit Titeln wie: „Hit the Road“, „Off the Road“, „On the „Road“, „Bulli Challenge“, „Camper Hacks“, „The new Outsiders“, „Abenteuer Vanlife“, „Bulli! Freiheit auf vier Rädern“, „Van Girls: Starke Frauen und ihr ungebundenes Leben in Campervans“. Seit letztem Jahr häufen sich schillernde Titel zum Leben im Freien. Der Tenor ist: nicht bloß raus hier, sondern gleich draußen bleiben. Statt Mikro jetzt Makro, nämlich die ganze Welt und das ganze Leben, unabhängig, selbstbestimmt und vor allem in der Natur genießen. Unterwegssein im Van wird zum Lebensmodell. Das Modell Urlaub auf dem Campingstellplatz gilt als gestrig.
Campende als Influencer
Auch die neue Camperszene grenzt sich dezidiert ab. Paul Nitzschke, der vielleicht bekannteste und einflussreichste Vanlifer hierzulande, erklärt gern in Interviews: „Was ich früher mit meinen Großeltern gemacht habe, der Wohnmobilurlaub in Spanien, hat einfach ein Imageproblem. Diese spießbürgerliche Art, seinen Urlaub zu verbringen, entspricht nicht dem Zeitgeist der Menschen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren.“
Paul Nitzschke hat es geschafft. Er kann von seinem neuen Lebensstil leben. Er betreibt den Blog Passport Diary, das vermutlich größte Magazin über Vanlife. Und er vertreibt E-Books rund um den Camperausbau. Auf Instagram folgen ihm 33.000 Menschen. Kein gutes Instagram-Foto ohne den Van und sein Innenleben und kein Blog ohne Selbstbauanleitung.
Die moderne Vanlife-Idee ist ein Import aus den Vereinigten Staaten, der im urbanen Milieu unter technik-, medien- und designaffinen Freelancern gut ankommt. Vanlife verspricht ein neues Lebensgefühl, in dem Arbeit und Leben kombiniert und in eine neue Balance gebracht sind. Wem der Van unterwegs auch als Homeoffice dienen kann und der Laptop als Arbeitsmittel ausreicht, kann, so die Überlegung, auch an südlichen Stränden seinen Brotjob erledigen. Auf Videokonferenzen mit Kollegen erscheint anstelle einer Bücherwand im Hintergrund dann allerdings das rauschende Meer, das sich die Weltreisenden als Kulisse ausgesucht haben. Und das hat was.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation