Dichtungen im digitalen Raum

Kein Luxus, kein Zeitvertreib, keine reine Kunst, sondern eine Notwendigkeit: Die Poesie. Coronabedingt war das Sprechen darüber beim Poesiefestival diesmal ins Netz gespeist

Im „Widerworte“-Programm: Franck Leibovici ein wenig verschlüsselt so im Bild, um damit zu vermeiden, dass sein Porträt im Netz kursiert Foto: Poesiefestival

Von René Hamann

Hiermit führe ich ein neues Kürzel ein, analog zu „tl; dr“ für „too long, didn’t read“, was ein Zeichen für eine Kurzzusammenfassung ist, die unter einem ellenlangen Text steht, ein Service für Lesende mit der für heutzutage üblich schwachen Aufmerksamkeitsspanne. Das neue Kürzel lautet „tl; dw“ und steht für „too long, didn’t watch“. Es ist gut verwendbar nicht nur für Kinofilme mit Überlänge, sondern vor allem für viral gehende Webinare und Wolesungen (= Vorlesungen aus Wohnzimmern), kurzum für alles, was seit Corona ins Digitale verlagert wurde und wird. Vor allem Lesungen, Performances, Podiumsdiskussionen.

So hat auch das 21., am Donnerstag zu Ende gegangene Poesiefestival Berlin in diesem Jahr ausschließlich im Netz stattgefunden statt draußen mit körperlich Anwesenden in der Akademie der Künste. Das veranstaltende Haus für Poesie hat sich entschieden, die Dichter und Dichterinnen sich selbst zu filmen oder filmen zu lassen und das zu einzelnen digitalen Panels zu bündeln, die man in der Mediathek von poesiefestival.org dann auch nach dem Festival noch einsehen darf. Könnte gut sein, dass das auch nach Corona zu einer nutzenswerten Methode wird: Liveperformance und seine digitale Verbreitung oder gar das völlige Ersetzen des Ersten durch das Zweite.

„tl; dw“ würde ich gern unter den gestreamten Beitrag „Poetry_and_activism“ setzen, der einen Moderator und vier Dichtende aus den Niederlanden, Australien und Deutschland ins Bild setzt und geschlagene 76 Minuten lang war. Nun ist Länge auch im digitalen Zeitalter eine Frage der Philosophie und des Aushaltens. Streams haben den Vorteil, ähnlich wie Radio oder Bügelfernsehen benutzbar zu werden: Man beginnt zu bügeln, während man den subjektiv empfunden zu langen Beiträgen folgt oder eben nicht mehr so ganz.

„Poetry & Activism“, wie es analog heißt, bot den kleinen poetologischen Vortrag, den Anne Carson sich und uns in ihrer „Berliner Rede zur Poesie“ geschenkt hat. Bas Kwakman, Niederländer mit sympathischer Ausstrahlung, zeichnete den Weg des poetischen Diskurses nach: von der Lyrik als „l’art pour l’art“ und „heilloses Unterfangen“, das bitte „auf nichts anderes als sich selbst verweisen“ möge, hin zu dem Satz „Der heutige Dichter steht mitten in der Welt“, also auch mitten in den politischen Diskursen. So eine Zeitung, führt er weiter aus, ist morgen „fürs Katzenklo“, Dichter werden mit ihren lyrischen Protestnoten aber noch 30 Jahre später gelesen. Zumindest theoretisch. Also warum nicht politisches Engagement im Gedicht?

Finden sehr eindrucksvoll auch seine Landsleute Frank Keizer und besonders Dean Bowen, der wohl für den intensivsten Vortrag aus seiner Butze im Irgendwo sorgte. „Eden ist neoliberal“, dichtete er und fand zu einer Geste gleichermaßen der Ergriffenheit und Erleichterung.

Eher anstrengend waren der politische Aktivist John Kinsella aus Australien und die sehr kontrolliert mit betontem Einatmen und viel Saalhall sprechende Lea Schneider aus Berlin. Schneider, die für ihre Übertragungen aus dem Chinesischen viel Respekt verdient, zog die Diskurslinie noch einmal stärker nach und sprach gar von der Poesie als „Schüssel zur Freiheit“ und der Verantwortung, die sie „als Dichterin, als Person mit einer Bühne“ habe. Denn so klein und marginal die Bühne auch sei: Die Poesie, zitierte sie, solle „kein Luxus, kein Zeitvertreib, keine reine Kunst, sondern eine Notwendigkeit“ sein.

Vertieft wurde die Problematik noch im Stream „Widerworte“, das immerhin mit Musik von Bernadette La Hengst und einigen hineingeschnittenen Weltnachrichtenbildern aufwartete. Maud Vanhau­waert aus Belgien führte aus ihrem Loft heraus vor, in welchen alltäglichen Gegenständen man Gedichte verstecken und wie man Poesievortrag, Aktivismus und Performance verbinden kann. So charmant nicht nur von ihr die Frage der Poesie des 21. Jahrhunderts eher vorgeführt als verhandelt wurde, so sehr fiel nicht nur bei ihr auf, wie wenig die soziale Frage – wer schreibt eigentlich Gedichte und vor allem: Wer liest sie überhaupt? – im Bewusstsein der Dichtenden steht. Und auch das Problem des Subjektiven bleibt oft genug offen oder wird zeitgemäß identitätspolitisch beantwortet.

Die Frage, die auch Kadhem Khanjar oder Franck Leibovici bewegt, ist hingegen eher die: Wie lässt sich die Poesie in die politisch durchdrehenden Weltbilder einschreiben und inwiefern schreiben sich diese Weltbilder zurück in die Poesie ein? Wie lässt sich Welt beschreiben, und vielleicht sogar so, dass sie sich verändern lässt? Und mit welchen technischen oder materiellen Mitteln ließe sich diese so entstandene Poesie reproduzieren? Und in welchen, immerhin, sozialen Räumen?

Ein anderes Verständnis zumindest des Digitalen boten Nick Thurston (Vereinigtes Königreich), Kathrin Passig (Deutschland) und Álvaro Seiça (Portugal) in ihrem Film „Digitale Poesie – Politisch programmiert“ an. Hier schreibt die Maschine gewissermaßen selbst. Hier ist das Digitale Programm, hier ist das Internet als Internet im Internet erfahrbar.

Eine der Fragen, die das Poesiefestival unter anderem bewegte: Wie lässt sich Welt beschreiben und vielleicht sogar so, dass sie sich verändern lässt?

„Eine echte Gegenwartsliteratur, will sie eine Reflexion von Welt sein“, bringt es Hannes Bajohr in seinem Vorwort auf den Punkt, „muss sich mit ihr befassen“, also mit der Digitalisierung. Im Folgenden sieht man eine Art Powerpointpräsentation mit Eingabemasken, die Nick Thurston mit Hin- und Herübersetzung durch entsprechende Tools nutzt und zu Poesie macht. Kathrin Passig erläutert schön digital verzerrt als sprechender Skype-Kopf ihre Verfahrensweisen mit Volltextsuchen und anderen digitalen Mitteln, poetischen Mehrwert zu, ja, generieren.

Am Weitesten geht wohl Álvaro Seiça, der viel Text spricht, aber auch Webseiten entwirft und verbindet, die „digitale Poe­sie“ zeigen, vertreten, erzeugen. Random Wortfindung, verschraubte Zusammenführungen.

Der Weisheit letzter Schluss wird das aber auch nicht gewesen sein; Lyrik als Gattung kann natürlich in sämtlichen Formaten gelesen werden und bietet sich schließlich schon seit Jahrzehnten als willkommenes Experimentierfeld für Versuche an. „Digitale Poesie“ ist da nur ein weiteres Stichwort.

tl; dr: Das Poesiefestival ging viral. Interessant war es, wenn auch oft zu lang. Auf die Zukunft kann man gespannt sein.