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Die Hoffnung swingt immer weiter

Er war einer der Ersten, und er hört nicht auf. Jeden Abend spielt Andrej Hermlin mit seiner Band im Wohnzimmer Swing und errichtet so eine Brücke aus der Musik von Benny Goodman, Tommy Dorsey oder Count Basie

Das sind die Swingin' Hermlins von links nach rechts: Andrej Hermlin, Daniel Duspiwa, Rachel Hermlin, David Hermlin, Jörg von Nolting Foto: Uwe Hauth

Von Thomas Winkler

Nein, dass Andrej Hermlin verlottert, da muss man keine Angst haben. Seit mehr als acht Wochen sendet der Swing-Musiker aus dem heimischen Wohnzimmer, aber immer noch ist er wie aus dem Ei gepellt. Der klassische Dreißiger-Jahre-Anzug, der blütenweiße Hemdkragen und die geschmackvolle Krawatte sitzen, das Einstecktuch ist natürlich auch nicht vergessen. Hermlin scheint, obwohl doch die Friseure geschlossen hatten, auch immer jemanden gefunden zu haben, der seinen strengen Scheitel in Form hielt.

Ob die Stilsicherheit doch mal leidet, kann man seit dem 15. März, als zum ersten Mal Großveranstaltungen wie Konzerte nicht mehr erlaubt waren, allabendlich auf Facebook überprüfen. Dort streamt Hermlin, unterstützt von wenigen Mitgliedern seiner Swing Dance Orchestra Band, darunter seine beiden singenden und tanzenden Kinder Rachel und David, immer ab exakt 19 Uhr unter dem Titel „The Music Goes Round And Around“ ein halbstündiges Unterhaltungsprogramm aus seinem Haus in Pankow. Damit war ausgerechnet Hermlin, dessen Geschäftsmodell als erfolgreichster Swing-Bandleader Deutschlands es über Jahrzehnte hinweg war, die gute alte Zeit wiederaufleben zu lassen, zu einem Vorreiter geworden: Kein Musiker sonst hat so schnell auf Corona reagiert, und niemand sonst spielt so konsequent gegen den Ausnahmezustand an.

Dabei fiel die Entscheidung erst am Tag, bevor die Corona-Beschlüsse in Kraft traten. Am 14. März hatte Hermlin noch einen Auftritt in kleiner Besetzung im Yorckschlösschen. An diesem Abend, erinnert er sich im Gespräch am Telefon, war bereits klar, dass es nun bis auf weiteres keine Konzerte mehr geben würde: „Und ich habe heulend am Klavier gesessen, das war mir in 30 Jahren Beruf noch nie passiert.“

Plötzlich sei ihm bewusst geworden, wie wichtig, ja existenziell die Musik für ihn, für sein Dasein ist. So habe er kurzerhand beschlossen: „Wir hören einfach nicht auf, wir spielen weiter.“ Und zwar jeden Tag und bis auf weiteres. „Davon wird mich nichts und niemand abhalten. Und wenn es zwei Jahre dauert, dann dauert es zwei Jahre.“

Das Pathos gehört wohl zur Berufsbeschreibung. Der 54-jährige Hermlin ist nicht nur Sohn des Schriftstellers Stephan Hermlin, sondern inszeniert sich schon lange geschickt als Sachwalter einer zeitlosen Kunstform. Mit seinem bis zu 21-köpfigen Orchester stellt er den unverstärkten Sound der Klassiker aus den dreißiger und vierziger Jahren dermaßen historisch korrekt nach, dass er sich nicht nur hierzulande eine große und treue Fangemeinde erspielt hat, sondern auch regelmäßig durch die Welt reist und gar zum 100. Geburtstag von Glenn Miller in dessen Heimatstadt Clarinda in Iowa auftreten durfte.

Diese Karriere wurde – wie die von nahezu allen anderen Musikern – im März auf Eis gelegt. Ohne Auftritte gibt es keine Einnahmen, die Umsätze mit Tonträgern oder aus dem Streaming sind für die meisten eh nur noch Zugabe.

Während der Coronakrise versuchen Künstler mehr schlecht als recht zu überleben. Sie spielen weiter für sich im Kämmerlein, sie nehmen Songs auf und veröffentlichen sie, sie streamen von der Couch aus – alles mehr oder weniger hilflose Versuche, den Kontakt zum Publikum zu halten. Hermlin nennt das „eine Brücke aus der Musik von Benny Goodman, Tommy Dorsey oder Count Basie“, die er jeden Abend zu errichten versucht. Denn Geld ist mit solchen Aktionen so gut wie keins zu verdienen. Der Musiker ruft zwar jeden Abend zu Spenden auf, links im Bild liegt stets ein Zylinder, daneben ein Schild mit der Bitte „Tip the music“ und einem Paypal-Konto, aber, sagt Hermlin, „reich wird man damit nicht“.

Niemand sonst spielt so konsequent gegen den Ausnahmezustand an wie Andrej Hermlin

Dass ein Normalzustand, in dem Musiker wie gewohnt arbeiten könnten, bald wieder erreicht werden kann, da macht sich Hermlin keine großen Hoffnungen. „Ich bin sicher kein Schwarzmaler“, sagt er, aber zeichnet die Zukunft dann doch in dunklen Farben: „Ein paar Monate können das einige sicherlich durchhalten, aber wenn das anderthalb Jahre so geht, dann wird nicht mehr viel übrig bleiben von Kunst und Kultur.“ Denn selbst wenn Konzerte wieder erlaubt werden sollten, müssten doch wohl auf absehbare Zeit die Abstandsregeln beibehalten werden: „Und wie viel soll dann eine Karte kosten, um Musiker, Saalmiete und Technik zu finanzieren?“, fragt Hermlin.

Nein, die Aussichten seien nicht rosig, bei Kollegen, mit denen er spreche, registriere er bereits eine Lethargie, und umso wichtiger seien deshalb die abendlichen Auftritte vor einem virtuellen Publikum, das regelmäßig im vierstelligen Bereich ist. Die Stelldichein im Hermlinschen Wohnzimmer sind also nicht nur eine avancierte Version von Hausmusik, sondern für den Initiator auch ein Ausdruck von Überlebenswillen: „Musik ist Hoffnung, ohne Musik wäre das Leben nur noch dunkel und schwarz – und das kann ich nicht akzeptieren.“

Ob die Krise dann doch auch etwas Gutes haben könnte? Vielleicht zumindest, glaubt Hermlin, dass den Menschen nun, da sie ihnen fehlen, umso bewusster wird, wie wichtig Musik und die anderen Künste sind. Eine Bestätigung dafür ist ihm die durchweg positive Resonanz auf die täglichen Streams.

Doch, sagt Hermlin, „man darf die Hoffnung haben, dass, wenn diese Krise einmal überwunden ist, diese Sehnsucht sich ausdrücken wird in einer tieferen Wertschätzung gegenüber Künstlern.“ Wenn es jemals dazu kommen sollte, darf man sicher sein, dass Andrej Hermlin diesen Tag in einem faltenfrei gebügelten Anzug erleben wird.

Jeden Tag um 19 Uhr: www.facebook.com/andrej.hermlin

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