: Wild und frei
Das Eigenrecht von Flüssen, Mooren, Flora und Fauna auf Freiheit und Unantastbarkeit uneingeschränkt respektieren. Ein Buch über Erfahrung der Wildnis von Gerhard Trommer
Gerhard Trommer: „Niemandland – leibhaftig, einsam, fern und wild. Naturerfahrungen zwischen Metropole und Wildnis“. Rangsdorf 2019, 320 Seiten, broschiert 19,90 Euro
Die Wildnis, das Wilde sind mit voller Wucht zurück im Bewusstein. Nicht als Wohlfühl-Oase oder Abenteuerspielplatz wie über lange Jahre in all den Dokus auf Discovery und im TV-Nachmittagsprogramm. Sondern eher im Gegenteil: als Brutherd von Pandemien, als Herz der Finsternis. Die aktuelle Quarantäne wäre eine gute Zeit, für sich selbst eine neue Balance zwischen den beiden Polen zu finden. Auch für ein Überdenken der eigenen Philosophie des Reisens. Ein Buch, das schon 2019 erschienen ist, wäre ein höchst anregender Wegweiser.
Das Cover-Foto zeigt zwei Backpacker auf dem Pacific Northwest Trail im US-Bundesstaat Washington. Sie ziehen entlang einer zerklüfteten, nebelverhangenen Felsküste, zwei kleine Gestalten inmitten einer großen, einsamen Landschaft. „Niemandland“ – den Titel seines Buches über „Naturerfahrungen zwischen Metropole und Wildnis“ hat der Autor Gerhard Trommer bei dem amerikanischen Naturphilosophen Henry David Thoreau entlehnt. „No man’s land“ – damit meinte Thoreau die weiten, damals noch fast menschenleeren, von Infrastrukturen freien Räume seines Landes, wo die Natur wild und frei ihre Dynamik entfaltete. The „great outdoors“ sind noch heute für Trommer beides: Ort hautnaher Erfahrung von Natur, auch ihrer Schrecken. Aber auch ein Ort heilender Natureinsamkeit, Thoreau sprach vor 150 Jahren von „solitude“. Die Räume schrumpfen. Die Sehnsucht wächst.
Trommer ist bildender Künstler und Biologe, emeritierter Hochschullehrer und Gärtner. Wildnis hat er zu seinem Lebensthema gemacht. In den frühen 1980er Jahren, den Zeiten von Waldsterbensdebatte und „German Angst“, brach er zu seinen ersten Trekkingtouren auf. Er wollte neu Maß nehmen – und zwar an amerikanischer Landschaft und Mentalität. „Niemandland“ handelt von der Kontrasterfahrung zwischen Überzivilisation und wilder Natur.
Tagebuch-Notate, Fotos und Skizzen von damals führen mitten hinein ins Geschehen. Der Autor reflektiert sie aus heutiger Sicht, grundiert sie mit Einsichten aus der klassischen amerikanischen Wildnis-Philosophie. Seine Heroen sind neben Thoreau Pionierdenker wie John Muir und Aldo Leopold. Alle drei haben den amerikanischen Traum grün interpretiert.
„Wow!“ – der Ausdruck fassungslosen Staunens ist in diesem Buch stets Auslöser für das Erzählen. Manchmal direkt und protokollhaft, manchmal im Rückblick reflektierend. Im winterlichen Yosemite-Nationalpark spürt der Autor angesichts eines 90 Meter hohen Sequoia-Baumpatriarchen „das Glück, vor einem dieser Riesenbäume im Schnee allein zu sein, windlos, vogellos, leutelos, atemlos …“ Seine Fingerkuppen ertasten die Fasern der Borke. Sie sind „leicht, zart, wärmend“. Ihren feinen, harzigen Geruch“ inhaliert er tief.
Der buchstäblich „wilde“ Westen wird lebendig, wenn Trommer von einer Begegnung mit einer Herde Mustangs auf der Maverick Range in Nevada erzählt. Oder wenn er im Canyon der Gila Wilderness in New Mexico Spuren von Klapperschlange und El Lobo, dem Wolf, entdeckt. Doch Trommer ist kein naiver Schwärmer. Er kennt „die überwältigende Kraft des Alleinseins in und mit der Natur“, aber auch „das lebensbedrohliche Ausgesetztsein“ in der Wildnis. Trekking beinhaltet für ihn einen Verhaltenskodex: durch ein Wildnisgebiet ziehen, zu Fuß oder im Kanu, unter Verzicht auf technische Hilfmittel und touristischen Komfort. Alles, was man braucht, mit sich tragen. Nichts entnehmen, nichts zurücklassen. Das Eigenrecht von Flüssen, Mooren, Flora und Fauna auf Freiheit und Unantastbarkeit uneingeschränkt respektieren. Eine Lektion für das Reisen in der Welt nach Corona!
Lässt sich solch ein hoher Begriff von Wildnis auf europäische Bedingungen übertragen? Das Buch klingt aus mit einem Kapitel über das Reinheimen Fjell im südlichen Norwegen, das Reich der Geröllfelder und Moorbirken, Lemminge und Rentierherden. Hier war Trommer in den 1990er Jahren mit Gruppen Studierender aus seinen Seminaren an der Universität Frankfurt unterwegs. Die jungen Wilden kommen mit ihren persönlichen Tagebuch-Notaten zu Wort: „Der Gletscher. Habe noch nie an einer Abbruchkante gestanden. Ich wurde mir der Naturgewalt bewusst.“
Trommers Buch macht Lust darauf, die intime Verbundenheit mit der Natur zu einem ganz persönlichen Lebenselixier zu machen. Jetzt erst recht! Ulrich Grober
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