: Im Kopf läutet die Glocke der Historie
Großeltern, Militärs, Partisanen – Ivana Sajko erzählt von den Lebenserfahrungen des 20. Jahrhunderts: „Familienroman“
Von Doris Akrap
Geschichte, ob nun die der eigenen Familie, einer Stadt, einer Liebe oder eines Krieges, Geschichte ist ein Wald, in den man reinläuft und nicht wieder rausfindet. Nur eines ist gewiss: Es gibt kein Zurück. Es geht immer nur nach vorne.
So ungefähr könnte man die Lebenserfahrung des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zusammenfassen. Jedenfalls wenn man Ivana Sajkos „Familienroman“ gelesen hat, in dem sie gleich auf der ersten Seite an Walter Benjamins Engel der Geschichte erinnert; jenen Engel, der auf die Vergangenheit guckt und nur Trümmerhaufen sieht und der nicht imstande ist, die Katastrophe aufzuhalten, weil der Sturm des Fortschritts ihn daran hindert.
Es gibt kein „Ich will nicht“; und ein „Ich kann nicht“ gehört unbedingt auch zu dieser Lebenserfahrung, wie sie Sajko beschreibt. Es ist die Erfahrung von zwei brutalen Kriegen (Zweiter Weltkrieg und Unabhängigkeitskrieg) und drei autoritären Regimen (Faschisten, Kommunisten, Nationalisten), in denen Menschen daran zugrunde gehen, dass in ihrem Kopf eine Glocke läutet, an die keine wirkliche Erinnerung geknüpft ist, die aber, sobald sie klingelt, Angst, Panik und Schock auslöst und sie immer weiterlaufen lässt, obwohl es gar nicht wirklich nach vorne geht, sondern im Kreis. Im Teufelskreis.
Klassischer Romanstoff
Sajko, die sich auch als Theatermacherin einen Namen gemacht hat, ist seit ihrem schriftstellerischen Debüt „Rio Bar“ (2009) auch in Deutschland bekannt. So erhielt sie 2018 für ihren „Liebesroman“ den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.
Mit ihrem „Familienroman“ wolle sie zeigen, „dass es unzählige Arten gibt, über Tatsachen zu sprechen. Keine einzige davon bildet die Wahrheit ab.“ So steht es im ersten Kapitel des Romans. Und dass es drei Geschichten sind, die sie erzählen will: die ihrer Eltern und Großeltern, die der kroatischen Hauptstadt Zagreb und die, die sich aus ihrer subjektiven Zusammenstellung von Dokumenten, Kommentaren, Erinnerungen und Sätzen ergibt.
Der klassischste aller Romanstoffe, die Familiengeschichte, wird von Sajko also in einem Dreischichtentakt bearbeitet. Vordergründig dem Versuch der Strukturierung geschuldet, lassen sich die verschiedenen Schichten im Verlauf des Romans aber nicht mehr klar voneinander trennen. Jede Schicht gibt immer nur etwas von sich preis, immer nur einen flüchtigen Eindruck, und vermischt sich dann wieder mit den anderen.
Da gibt es die Großeltern, die ihr Leben lang reicherer Leute Häuser geputzt haben und auf Baustellen und in Fabriken schufteten, um an Geld zu kommen. Da gibt es die Mutter, die sich in den Erstbesten verliebt, ihn heiratet, schwanger wird und von ihm schließlich dort sitzengelassen wird, von wo er versprochen hat sie wegzubringen.
Da gibt es die Eroberung Zagrebs durch die deutschen Nazis, die kroatischen Faschisten, die jugoslawischen Partisanen und die kroatischen unabhängigen Militärs. Und da geht es um Loyalitäten und Gehorsam und darum, dass weder das eine noch das andere politische System dankt und kompensiert, was es dem Einsatz seiner Mitglieder schuldet.
Eine der bewegenden und mittlerweile völlig vergessenen historischen Episoden, die Sajko erzählt, ist die Geschichte der Partisanentheater, der Dichter, Schauspieler und Künstler, die sich den Einheiten der Partisanen anschlossen und für kulturelle Erbauung sorgten, so zum Beispiel der junge Dichter Ivan Goran Kovačić, der gemeinsam mit dem 37 Jahre älteren Schriftsteller und Politiker Vladimir Nazor zu den Partisanen ging und 1943 während der großen Schlacht an der Sutjeska vom Feind ermordet wurde.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchen aber auch Figuren wie Bruno Bušić auf. Ein Kroate, dessen Flugblatt unter dem Titel „Aufruf zur Würde und zur Freiheit“ 1976 in der New York Times veröffentlicht wurde – was die Forderung kroatischer Nationalisten war, die ein amerikanisches Flugzeug entführt hatten. Hatte dieser Bušić, der so viel Blödsinn, Falschinformationen und konterrevolutionäres Zeug erzählte, am Ende nicht recht damit, dass er bedroht, verfolgt, ermordet werden würde?
Ivana Sajko: „Familienroman“. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Voland und Quist, Dresden 2020, 172 Seiten, 20 Euro
In Sajkos Roman ist kein Wort Zufall. Es ist ein poetisches Buch, voller Anspielungen und Metaphern. Dass einem oft die Ironie, die Anspielungen, die Metaphern entgehen, liegt nicht an Alida Bremers hervorragender Übersetzung des bereits 2009 in Kroatien erschienenen Romans. Es liegt daran, dass man ohne gute Kenntnis der (post)jugoslawischen Geschichte und Gesellschaft vieles nicht so leicht verstehen kann.
Aber das, was man versteht, lässt sich an Debatten anknüpfen, die auch hier ständig geführt werden. Es geht um die Frage des Aussiebens und Auslöschens von Erinnerung, was Sajko, den jugoslawischen Staatspräsidenten Tito zitierend, mit der tatsächlichen Auslöschung des Feindes, also seiner Ermordung, gleichsetzt. Und es geht viel um das damit zusammenhängende Schweigen und den Glauben daran, dass es eine gerechtere Zukunft gibt.
Herauslesen lässt sich aus dem „Familienroman“ aber natürlich auch, dass die Einordnung der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien zwischen 1941 und 1991 keine Ordnung und kein Paradies, sondern Verzweiflung, Resignation und Leere geschaffen hat. Und dass Geschichte zu erzählen nicht folgenlos ist, sondern zerstörerische Kraft hat, und sei es noch so erbaulich gemeint.
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