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Die Unbekannte im „Blauen Engel“

In seinem Roman „Das Licht der Zeit“ erzählt der Berliner Schriftsteller Edgar Rai virtuos von derStarwerdung der Marlene Dietrich und der kulturellen Revolution im vorher stummen Filmgeschäft

Unverkennbar: Marlene Dietrich als Showgirl Lola im „Blauen Engel“ von Josef von Sternberg Foto: imago

Von Katharina Granzin

Mit ihren Beinen werde sie es mal weit bringen, prophezeit die Lieblingstante dem Mädchen. Die Mutter des Mädchens hat allerdings andere Pläne: Konzertgeigerin soll die talentierte Tochter werden; immerhin wurde ein guter Teil des Familienvermögens in ein Instrument investiert. Auf diesem übt die Sechzehnjährige zwar fleißig, doch ihr Herz ist nicht dabei. Das gehört ganz Henny Porten, der berühmten Filmschauspielerin. Wann immer das Mädchen Zeit hat, steht sie vor Portens Wohnhaus und hält Ausschau nach der Umschwärmten, bis sie eines Tages tatsächlich hereingebeten wird.

Bei dem Mädchen handelt es sich um Marlene Dietrich; und für die Szene, in der die jugendliche Marlene die begehrte Henny Porten in deren eigenem Badezimmer verführt, hat der Autor Edgar Rai erotischen Phantasien ganz schön die Zügel schießen lassen. Doch genau das – das phantastische Element – wird damit exemplarisch vorgeführt, denn natürlich ist diese Szene auch metaphorisch zu lesen. Die Art, wie die junge Marlene Dietrich als früh ausgereifte Femme fatale eingeführt wird, setzt von Beginn an den (dezent ironisch unterfütterten) Ton dieses Romans, dessen Personen und Orte sämtlich der historischen Wirklichkeit entstammen und in dem viele, vielleicht sogar die meisten Szenen sich im Prinzip so abgespielt haben könnten, wie sie hier erzählt werden. Oder eben nicht.

Man kann nur so viel recherchieren, wie es Material gibt, der Rest ist Sache der Einbildungskraft. Recherchiert hat Rai zweifellos gründlich. Er lässt das gesammelte Wissen so reichlich und dabei spielerisch nebenbei in seinen Roman einfließen, dass man nach der Lektüre mühelos in der Lage wäre, ein kleines Stegreifreferat über die Berliner Kulturszene Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu halten. Unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung des deutschen Tonfilms, am Beispiel der Dreharbeiten von „Der blaue Engel“.

„Der blaue Engel“ wurde nach Motiven von Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“ 1929 im neuen Tonfilmstudio in Babelsberg gedreht. Er war einer der ersten deutschen Tonfilme überhaupt und wurde zu einem der sensationellsten Erfolge der Ufa. Das war auch nötig, denn die Produktionskosten hatten astronomische zwei Millionen Reichsmark betragen. 200.000 davon entfielen auf das Honorar des Hauptdarstellers, Superstar Emil Jannings. Am Honorar von Jannings’ weiblichem Counterpart konnte man dafür wieder einiges einsparen, denn die Rolle des Showgirls Lola Lola, die den alternden Lehrer um Verstand und Würde bringt, wurde nach einigem Hin und Her mit der damals reichlich unbekannten Marlene Dietrich besetzt. Sie verdiente mit diesem Film zwar nur ein Zehntel dessen, was Jannings bekam, zog aber anschließend an der Seite des Regisseurs Josef von Sternberg los, um Hollywood zu erobern, und stieg zum Weltstar auf.

So weit die Kurzfassung der bekannten Fakten. Im Nachhinein haben viele der am Film Beteiligten ihre – sich gegenseitig durchaus widersprechenden – Erinnerungen an die Dreharbeiten aufgeschrieben, die sehr aufregend gewesen sein müssen, voller Intrigen, Konflikte und Eifersüchteleien.

Große Teile von Rais Roman sind aus Marlene Dietrichs Sicht erzählt

Große Teile von Rais Roman sind aus Marlene Dietrichs Sicht erzählt, mitunter hinübergleitend zu einer diffus auktorial gefärbten Erzählstimme. So ist es möglich, die Dietrich von allen Seiten zu sehen: von außen den Vamp, von innen eine lebenshungrige junge Frau, die nimmt, was sie kriegen kann, sich aber auch mit künstlerischen und persönlichen Selbstzweifeln – etwa was ihre Rolle als Mutter betrifft – herumschlägt und den Gedanken an eine große Karriere schon aufgegeben hat. 1929 war Marlene Dietrich 27 Jahre alt.

Die männliche Hauptrolle des Romans nimmt einer ein, der damals ein großer Strippenzieher hinter den Kulissen gewesen sein muss: Karl Vollmöller, heute als Autor fast vergessen, damals literarischer Hansdampf-in-allen-Gassen und anerkanntes Universalgenie, schrieb nicht nur maßgeblich am Drehbuch mit, sondern arbeitete eng mit dem Produzenten Erich Pommer zusammen. Er spielte eine ausschlaggebende Rolle beim Zustandekommen des Projekts.

Die Revolution, die sich in der Filmbranche mit dem Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm vollzog, wird bei der Lektüre von „Im Licht der Zeit“ hautnah nachvollziebar, virtuos aufbereitet mit den Mitteln eines Spannungsromans. Zahlreiche Figuren der Zeitgeschichte beleben den Roman, charakteristisch skizziert in kurzen Cameo-Auftritten. Kinopaläste, Theater und Lokale aus dem Berlin der Zwanziger Jahre bilden die Kulisse, mal prachtvoll, mal schäbig und im Ganzen so, dass man sich wünscht, man hätte, und sei es als Mäuschen, dabei sein können. Damals im Romanischen Café. Oder im einstigen Gloria-Palast am Ku’damm, wo der „Blaue Engel“ im Jahr 1930 seine Premiere erlebte.

Edgar Rai: „Im Licht der Zeit“. Piper, München 2019, 512 S., 22 Euro

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