: Alles auf Anfang
Mariam und Mahyar wollten die Türkei verlassen, das Ziel: Europa. Wie so viele Flüchtlinge. Sie hofften auf offene Grenzen, aber sie wurden enttäuscht. Was machen sie jetzt?
Aus Istanbul und Edirne Vecih Cuzdan (Text) und Murat Bay (Foto)
Nur wenige Stunden hatten Mariam und Mahyar Hoffnung, die Türkei verlassen zu können, Europa zu erreichen, um dort das zu erlangen, was sie herbeisehnen: Freiheit, Sicherheit – oder wenigstens ein etwas besseres Leben. Vor einem Jahr waren die beiden, die hier aus Sicherheitsgründen nur mit ihren Vornamen genannt werden wollen, aus Iran in die Türkei geflohen. Mahyar hatte im Istanbuler Stadtteil Esenyurt Arbeit in einem Barbierladen gefunden. Doch auch in der Türkei waren sie nicht sicher. Deshalb brachen sie auf zur türkisch-griechischen Grenze.
Aussagen der türkischen Regierung hatten das Ehepaar veranlasst, Istanbul zu verlassen. Ende Februar ließ die Regierung verlauten, die Grenze sei geöffnet worden, und sofort fuhren zehntausende Geflüchtete zur Grenze. In der ersten Woche nach dieser Nachricht gab der türkische Innenminister Süleyman Soylu jeden Tag bekannt, wie viele Flüchtende angeblich nach Europa gelangt seien. Die griechische Regierung widersprach diesen Zahlen zwar, aber das drang nicht durch; die Hoffnung, es zu schaffen, war größer. In seiner vorerst letzten Erklärung am 7. März behauptete Soylu noch, dass mehr als 143.000 Personen das Land verlassen hätten. Er ermutigte die Geflüchteten sogar dazu, den Grenzfluss zu überqueren: „Das Wetter ist gut, und es wird wärmer. An manchen Stellen ist das Wasser nur 40 oder 50 Zentimeter tief. Das bedeutet, dass Sie einfach rüberlaufen können.“
Es war der Morgen des 28. Februar, als Mahyar im Barbierladen den Anruf eines Kollegen erhielt, der an diesem Tag nicht zur Arbeit gekommen war. Die Grenze sei offen! Als Mahyar das hörte, beschloss er, sein Glück zu versuchen. Zusammen mit Mariam, drei Kollegen und fünf weiteren Personen mietete er einen Kleinbus für umgerechnet 170 Euro und fuhr zur 200 Kilometer entfernten Grenzstadt Edirne. Als wir sie dort fotografierten, dachten sie wahrscheinlich, dass das ihre letzten Fotos aus der Türkei sein würden.
Doch es kam anders. Kaum dort angekommen, wurden ihnen klar, dass die Versprechungen der türkischen Regierungen falsch waren. Sie erlebten, wie brutal die griechischen Sicherheitskräfte gegen die tausenden von Menschen vorgingen, die sich in der Pufferzone zwischen der Türkei und Griechenland drängten. Sofort beschlossen Mahyar und Mariam, nach Istanbul zurückzukehren. Seither wartet Mahyar wieder im gleichen Barbierladen auf Kundschaft. Auf seiner Mütze steht „My life is my life“. Beim Sprechen neigt der 28-Jährige seinen Kopf nach vorn: „Es scheint nicht die richtige Zeit zu sein, um nach Europa zu gehen. Auch wenn wir es nach Griechenland geschafft hätten, würden wir dort stecken bleiben. Die türkische Regierung und die Medien haben uns angelogen.“
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde in Europa scharf dafür kritisiert, die Geflüchteten als Druckmittel zu instrumentalisieren. Trotzdem versucht die EU, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu retten. Bei einer Videokonferenz mit Erdoğan am 17. März erklärten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron zu einer Aufstockung der EU-Mittel zur Versorgung von Geflüchteten in der Türkei bereit. Direkt am Tag darauf kündigte das türkische Innenministerium an, dass die Türkei die geöffneten Grenzübergänge zu Griechenland und Bulgarien „im Rahmen der Maßnahmen gegen das Coronavirus“ um Mitternacht für den Grenzverkehr schließen werde. Voraussichtlich werden die Lager an der Grenze in den kommenden Tagen geräumt und die Menschen zurückgeschickt.
Die Hoffnung der Menschen, die seit drei Wochen in der Pufferzone des Grenzübergangs Pazarkule-Kastanies oder in den naheliegenden Wäldern auf die Grenzöffnung warten, schrumpft jeden Tag. Durch die schwierige Versorgungslage und die schlechten hygienischen Bedingungen haben viele von ihnen inzwischen ganz aufgegeben und sind in die Städte zurückgekehrt, in denen sie zuvor gelebt haben.
Mahyar und Mariam konnten die Erlebnisse noch nicht verarbeiten. Die 24-jährige Mariam, die halbtags in einem Kosmetiksalon arbeitet und über Instagram selbst entworfene Kleider verkauft, erzählt, dass sie seit ihrer Rückkehr aus Edirne an Depressionen leide. Sie kann die Menschen nicht vergessen, die dort unter Planen schlafen. Eine Gaspatrone landete genau vor ihren Füßen, der Schock sitzt immer noch tief: „Ich bekam keine Luft mehr. Ich konnte nichts mehr sehen und nichts mehr denken. Ich hörte nur noch die Stimmen, die Schreie der Frauen, das Weinen der Kinder und spürte den Drang, fortzulaufen.“ Mariam erzählt, dass sie versucht habe, mit ihren Freund*innen zu sprechen und in den Alltag zurückzufinden. Aber dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit bekommt sie nicht los. Trotzdem hätten sie nicht weiter an der Grenze warten können, sagt sie, denn: „So wenig es auch sein mag, wir hatten etwas zu verlieren. Daran wollten wir festhalten.“
Was sie zu verlieren hatten, war ihr ungewisses Leben, ihre unregistrierten Jobs. Afghanische und iranische Geflüchtete haben in der Türkei keinen Schutzstatus und können kein Asyl beantragen. Die Türkei helfe Asylsuchenden nicht, sondern betrachte sie als Touristen und versuche an ihr Geld zu kommen, sagt Mahyar. „Erst sagen sie, dass wir bleiben können, aber dann geben sie uns doch keinen Aufenthaltstitel. Wenn man Geld hat, kann man sich ein Haus kaufen und einen Pass bekommen, wenn nicht, dann hat man hier keinen Platz.“
Mahyar hatte zumindest ein wenig Glück, sein Chef im Barbierladen hat ihn unterstützt. Als sich Mahyar auf den Weg zur Grenze machte, bat er um Urlaub: „Wir haben ihm gesagt, dass wir zurückkehren, wenn wir es nicht über die Grenze schaffen. Er hat uns drei Tage frei gegeben.“
Viele der Menschen, die seit drei Wochen an der Grenze warten, haben in Istanbul kein Leben, in das sie zurückkehren können. Am 13. März nähten zwei afghanische Jugendliche ihre Münder zu und traten in den Hungerstreik, um gegen die Zustände an der Grenze zu protestieren.
„Die syrischen Geflüchteten waren an der Grenze in der Minderheit, die meisten Flüchtenden waren Afghanen. Diese Menschen fühlen sich betrogen“, berichtet ein Flüchtlingsaktivist, der in den vergangenen drei Wochen am Grenzübergang war und seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. „Viele haben ihre Jobs gekündigt und ihre Wohnungen aufgegeben, um hierherzukommen. Wir haben mit Menschen gesprochen, die nur deshalb nicht zurückkehren wollen, weil sie nicht wissen, was sie dort tun sollen.“
Auch Kusay aus Syrien lebt mit seiner Familie seit zwei Wochen in einem zusammengeschusterten Zelt in der Pufferzone. In der Region sind Journalist*innen nicht erlaubt, deshalb konnten wir mit ihm nur am Telefon sprechen. Er berichtet davon, dass sie sich im Fluss waschen und stundenlang anstünden, um an Nahrungsmittel zu kommen, die türkische Hilfsorganisationen dort verteilen. Um zu dem drei Kilometer entfernten Laden zu gelangen, müssten sie ihre Fingerabdrücke abgeben, und auch dafür warteten sie stundenlang.
Manche seien in die Städte zurückgekehrt, aus denen sie gekommen sind, andere versuchten, die Drähte zu durchtrennen und auf die griechische Seite zu kommen, sagt Kusay, der immer noch in Pazarkule wartet. Er will trotz der Nachricht, dass die Türkei den Grenzübergang schließt, wenigstens noch ein paar Tage ausharren. In Istanbul hat er keinen Job, zu dem er zurückkehren könnte. Immer wieder hört er unterschiedliche Neuigkeiten. In einer Telegram-Gruppe mit dem Namen „Der Konvoi, der Grenzen durchbricht“, die inzwischen mehr als 4.000 Mitglieder hat, werden jeden Tag die neuesten Entwicklungen geteilt, und manchmal auch Fake News. „Die Verhandlungen dauern an. Vielleicht gibt es ja eine Lösung“, schreibt ein Syrer. Jemand anderes hat ein Video von einer alten Bundestagssitzung geteilt und darunter geschrieben: „Die Europäische Union beschließt Flüchtlingshilfe“. An manchen Tagen kommen mehr als tausend Nachrichten. Wie soll man da noch wissen, was man glauben soll? Die Hoffnung, die in so kurzer Zeit gewachsen ist, ist genauso schnell wieder verschwunden. Und in Europa wird dieses Thema jeden Tag unwichtiger. Nun bestimmt das Coronavirus die Tagesordnung.
Die Migrationssoziologin Cavidan Soykan befürchtet, dass durch die Ausbreitung des Coronavirus in der Türkei die Anfeindungen gegen Geflüchtete steigen werden. Bereits seit 2016 seien viele in der Türkei der Meinung, dass die syrischen Geflüchteten nicht dauerhaft bleiben könnten und zurück in ihr Heimatland müssten. „Ich hoffe, dass die Geflüchteten nicht dafür bestraft werden, dass sie unerlaubt die Städte verlassen haben, in denen sie registriert sind“, sagt sie. „Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den Städten, in die sie zurückkehren, Anfeindungen der türkischen Bevölkerung und rassistischen Angriffen ausgesetzt sind.“
Auch der Alltag im Istanbuler Stadtteil Esenyurt hat sich verändert. Mariam und Mahyar haben inzwischen den Traum von Europa aufgegeben. Sie sind sich einig, dass es für sie in der Türkei keine Zukunft gibt, doch sie haben keine andere Möglichkeit, als hier zu bleiben. Mahyar arbeitet weiterhin zwölf Stunden pro Tag in dem Barbierladen. Die meisten Kunden in dem großzügig geschnittenen Geschäft im Erdgeschoss eines neugebauten Wohnblocks sind Iraner. Von dem Geld, das sie für die Rasur bezahlen, bekommt Mahyar die Hälfte. Nachdem er eine Weile geschwiegen hat, stellt Mahyar die Frage, die gerade alle hier beschäftigt: „Wird das Coronavirus auch uns Barbiere beeinflussen?“
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
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