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Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Flüchtlingslager Moria auf LesbosDie verlorenen Kinder

Sie gehen nicht zur Schule, leben in Zelten und 250 teilen sich eine Toilette. 8.000 Flüchtlingskinder leben auf der griechischen Insel Lesbos.

M oria no good – Moria ist nicht gut!“ – wie einen Kinderreim ruft sich eine Gruppe von Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren den Satz immer wieder gegenseitig zu. Sie halten Glasmurmeln in den schmutzigen Händen, ihr Lachen wirkt trotzig. Die Jungen gehören zu den etwa 8.000 Kindern, die im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel ausharren müssen.

Rund um Moria ist eine wilde Kleinstadt aus Zelten, Holzhütten und Planen entstanden. Denn das offizielle Lager hat nur eine Kapazität für etwa 3.000 Menschen. Doch mittlerweile leben hier über 21.000 Schutzsuchende.

Die Glasmurmeln klicken im Staub, der eine Junge hat verloren und macht ein langes Gesicht. Der andere stupst ihm in die Seite. Lachend rennt die Gruppe den Hügel hinauf, den abgeholzten Baumstümpfen entgegen. Der Kleinste von ihnen kann nicht mithalten, denn er trägt nur Plastikschlappen an seinen bloßen Füßen. „Moria no good“, schallt es erneut. Die Olivenhaine rund um das Camp Moria dienen den Menschen als Feuerholz. Die Temperaturen in den letzten Tagen lagen bei um die fünf Grad.

Die Sozialarbeiterin sucht ihre Kinder

Sozialarbeiterin Chrissa Papadaki fährt oft die etwa 20-minütige Strecke von der Hafenstadt Mytilini nach Moria. Sie arbeitet für die Jüdische Gesellschaft zur Einwanderungshilfe (HIAS), einer gemeinnützigen jüdisch-amerikanischen Organisation, die humanitäre Hilfe und Unterstützung für Geflüchtete anbietet. Noch bis vor ein paar Jahren war Papadaki als Kindergärtnerin in Athen tätig. „Doch hier wird man jetzt dringender gebraucht“, sagt die 29-Jährige. Ihre Aufgabe ist es, Kinder in Kontakt mit Aufnahmezentren, ÄrztInnen und AnwältInnen zu bringen. Auch für Familienzusammenführung ist sie zuständig. „In Moria gibt es kaum Informationen für die Geflüchteten“, berichtet die Frau. Deshalb sei sie hier.

Mit festen Schritten geht Chrissa Papadaki den sandigen Weg hinauf, der an der Außenseite des vom griechischen Staat betriebenen, hoch umzäunten Flüchtlingslagers vorbeiführt. Sie macht ihre obligatorische Runde, um bereits vermerkte Kinder und Jugendliche an ihre Termine zu erinnern und um neue unbegleitete Minderjährige aufzuspüren.

„Hier ist die Einkaufsstraße“, sagt sie lachend und zeigt auf die kleinen Geschäfte, die mit der Zeit entstanden sind. Turnschuhe für zwei Euro, Obst und Gemüse, Eier und Tabak. Die einzelnen Stände sind aus Kisten und Paletten gebaut. Müllberge türmen sich daneben auf. „Ja, die Müllabfuhr kommt hier fast nie vorbei“, sagt Papadaki und bahnt sich den Weg durch eine Traube spielender Kinder, streicht einem Jungen über den Kopf. „Ich suche hier immer wieder nach unbegleiteten Minderjährigen“, erklärt die Sozialarbeiterin. Von den mehr als 21.000 Menschen hier sind über 40 Prozent Kinder, davon sind etwa 1.000 ohne ihre Angehörigen angekommen.

Die Flüchtlinge auf den Inseln

Die Zahlen In Griechenland leben nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR derzeit 115.600 Flüchtlinge und Asylsuchende. Davon sitzen laut dem Migrationsministerium Athen 42.000 Menschen auf den griechischen Ägäisinseln vor der türkischen Küste fest.

Die Neuankömmlinge Ein 2016 zwischen der EU und der Türkei geschlossenes Abkommen sieht vor, illegal in die EU eingereiste Menschen leichter wieder in die Türkei zurückschicken zu können. Trotz dieses Vertrags steigt die Zahl der ankommenden Schutzsuchenden. Im laufenden Jahr erreichten 3.948 Menschen von der Türkei kommend über das Meer die Inseln Lesbos, Samos, Chios und Kos. Zum Vergleich: Im Januar 2019 erreichten 1.850 Menschen die griechischen Inseln, in diesem Jahr waren es im Januar bereits 3.150.

Die Kinder 34 Prozent der insgesamt 42.000 Schutzsuchenden auf den Inseln sind Jugendliche und Kinder. Weit über die Hälfte von ihnen sind unter 12 Jahre alt. Etwa 14 Prozent der Minderjährigen sind ohne ihre Angehörigen unterwegs. Nach Angaben des UNHCR sind 10.850 der Minderjährigen im schulpflichtigem Alter. Weniger als drei Prozent von ihnen gehen zur Schule, da die Kapazitäten nicht ausreichen.

Die Lager Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln sind längst nicht für so viele Menschen ausgerichtet. Am extremsten ist die Situation auf Lesbos. Das dort vom griechischen Staat betriebene Camp Moria hat eine Kapazität für etwa 3.000 Asylsuchende. Aktuell leben dort mehr als 21.000 Menschen. Zum Vergleich: Die Inselhauptstadt Mytilini hat eine Einwohnerzahl von 37.890. (taz)

Papadaki zeigt auf ein abgeriegeltes Gebiet hinter den hohen Zäunen des offiziellen Camps. „Es gibt für Kinder und Jugendliche 210 Plätzen innerhalb des offiziellen Camp und 147 Plätzen außerhalb des Lagers“, sagt sie, zuckt mit den Achseln und stößt einen Seufzer aus. Das sei nichts, wenn man bedenkt, dass hier etwa 8.000 Kinder lebten. Und selbst in den abgezäunten Distrikten für Minderjährige seien die Kinder und Jugendlichen nicht sicher, sagt Papadaki. „Ich hatte erst letztens mit einem 16-Jährigen Kontakt, der in eine Messerstecherei geraten war – mit neun Stichen hat er knapp überlebt“, berichtet die Sozialarbeiterin.

Papadaki hat ihre Runde beendet und geht die staubige Einkaufsstraße mit den kleinen Geschäften zurück, die zur asphaltierten Hauptstraße und zum bewachten Eingang von Moria führt. Heute hatte sie kein Glück. Sie konnte den Jungen, den sie an seinen Termin mit einem Anwalt erinnern wollte, nicht finden. „Manchmal sind die Kinder auch mit einem mal nicht mehr da“, seufzt sie.

Ein Bachlauf voller Müll im Vorfeld des Lagers Moria. Männer bauen eine Brücke Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Im letzten September seien selbst aus dem Sicherheitstrakt im offiziellen Camp mehrere Kinder verschwunden. Wie viele genau, weiß ­niemand. Mithilfe der sozialen Medien ließ sich der Weg von manchen von ihnen nachverfolgen. Dadurch habe man erfahren, dass sie von Schleppern in ihre Wunschländer gebracht worden seien. „Die Behörden auf Lesbos haben sie dann schnellstens als vermittelt und nicht als verschwunden gemeldet“, sagt Papadaki und lacht bitter. Ein Kind hat man tot in einem Lastwagen gefunden. Es gehörte vermutlich zu einer Gruppe, die auf eigene Faust versucht hatte, ihre Familien zu erreichen.

Die Familienzusammenführung ist in den letzten Jahren deutlich erschwert worden. „Noch vor zwei Jahren konnte man leichter, etwa durch Fotos beweisen, dass das Kind zu dieser oder jener Familie gehört. Jetzt fordern die Behörden plötzlich Urkunden – doch die gibt es in bestimmten Ländern gar nicht“, sagt Papadaki.

Der Arzt und seine Versuche, den Kindern zu helfen

Mit dem System der Behörden muss sich auch Dimitris Patestos herumschlagen. Der 47-Jährige Kardiologe koordiniert die medizinische und psychische Hilfe der Ärzte der Welt auf Lesbos. Der Sitz der Organisation befindet sich im Zen­trum der Inselhauptstadt Mitylini. „Die Zustände in Moria und im wilden Camp sind unmenschlich, dennoch renne ich jeden Tag gegen Mauern“, sagt der Arzt. Etwa als er einen Säugling wegen einer Mundverletzung zu einem Spezialisten nach Athen schicken wollte. „Das Baby hat geweint vor Schmerzen und konnte kaum essen“, sagt Patestos nachdrücklich. Einen Monat habe er gebraucht, um die Behörden von der Dringlichkeit einer Behandlung zu überzeugen.

Doch nicht nur die schweren Fälle sind bedenklich. Auch eigentlich harmlose Krankheiten wie die Krätze können schwerwiegende Folgen haben. „Das große Problem sind die katastrophalen hygienischen Bedingungen“, sagt Patestos. Man könne sich nicht immer waschen und frische Kleidung gäbe es auch nicht. Die Ansteckungsgefahr ist groß. „Nachts juckt Krätze wie verrückt und lässt die Kinder nicht schlafen. Und Schlaf ist so wichtig, besonders in diesem Alter“, sagt der Arzt. Erkältungen seien fast nicht zu kurieren, denn kaum etwas schütze vor der Kälte. „Obwohl die Kinder nach Europa gebracht wurden, um ihnen Schlimmes zu ersparen, können sie sich nicht erholen“, sagt Patestos.

Drei Freundinnen aus Afghanistan, gestrandet in Moria Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Er mache sich große Sorgen, denn hier herrschten die idealen Bedingungen für eine Epidemie. Die physische und vor allem die psychische Gesundheit der Kinder gilt als stark gefährdet. Denn viele von ihnen sind schwer traumatisiert. „An meinem Behandlungszimmer fuhr einmal ein Wagen der Müllabfuhr scheppernd vorbei“, berichtet Patestos. Das Kind, dass in seinem Behandlungszimmer saß, begann zu weinen. „Es dachte, das Scheppern käme von einschlagenden Bomben“, sagt der Arzt leise.

Nachts juckt Krätze wie verrückt und lässt die Kinder nicht schlafen. Und Schlaf ist so wichtig, besonders in diesem Alter

Dimitris Patestos, Arzt auf Lesbos

Aminah, die ihren Nachnamen nicht verrät, weiß, wie schlimm es mit der Hygiene in Moria bestellt ist. Sie schiebt die weiße Plane ihres Zelteingangs zur Seite. Ihr Sohn Mohammad sitzt auf dem Boden. Er hat mehrere Pusteln am Bein und kratzt sich immer wieder. Sachte schiebt die Mutter die Hand des zarten Jungen zur Seite und streicht ihm liebevoll über die Wange. Sie ist nach eigener Aussage mit ihrem Sohn aus Afghanistan vor den Taliban geflüchtet. Vor gut zwei Monaten kamen sie auf Lesbos an. „Mein Vater ist schon so lange weg“, sagt der Neunjährige. „Tot“, fügt die 31-jährige Mutter kaum hörbar hinzu. Im Olivenhain neben dem Camp Moria habe sie eines der besseren Zelte erwischt, lächelt Aminah. Die weiße Plane sei etwas dicker als bei anderen Zelten und es regne kaum hinein.

Da sie noch vor dem 1. Januar 2020 ankamen, gelten für die kleine Familie die alten Asylregelungen. Denn alle Menschen, die in diesem Jahr ankommen, müssen innerhalb von 25 Tagen klären, ob sie ein Recht auf Asyl haben. Schaffen sie das nicht, droht ihnen die Abschiebung. Obwohl das schnelle Verfahren von MenschenrechtsaktivistInnen kritisiert wird, hat es innerhalb des Flüchtlingscamp eine ganz andere Wirkung. „Es ist so ungerecht, dass die, die später ankamen, schneller vorsprechen dürfen“, sagt Aminah. Sie habe ihren Termin erst in sechs Wochen. Das Leben im Camp sei so kräftezehrend, für alles müsse man sich anstellen. Um auf die Toilette zu gehen, um zu duschen und um Essen zu bekommen. Auf eine Dusche kommen etwa 250 Menschen. Dasselbe gilt für die Toiletten. „Wenn man sich zum Essen anstellt, gibt es oft Streit“, sagt die Mutter. Sie mache sich immer Sorgen um ihren Sohn, denn es sei schon häufiger zu Messerstechereien gekommen. „Aber es bleibt mir ja nichts übrig, wir müssen doch etwas essen“, sagt sie.

Wir versuchen den Menschen hier ein bisschen zurückzugeben, was ihnen genommen wurde: Wärme, Herzlichkeit, einfach mal wieder ausgehen

Nikos Katsouris, Tavernenbesitzer

Oft sehe sie Gruppen von Kindern, die sich gemeinsam anstellen – die hätten keinen Erwachsenen, der auf sie aufpassen. Diese Kinder müssen sich durchschlagen und ziehen oft von Zelt zu Zelt, um einen Schlafplatz für die nächste Nacht zu finden. „Ja, ich nehme in unserem Zelt auch immer mal ein Kind zum Übernachten auf“, sagt sie leise. Mohammad lässt sich auf die dünne Matratze plumpsen, zieht sich eine Decke über den Kopf und murmelt etwas in den Stoff hinein. „Er will nach Hause“, übersetzt Aminah und breitet hilflos die Arme aus.

Knapp neun Kilometer südlich von Moria liegt das Dorf Skalas Sikountos. Dort betreibt das Paar Nikos Katsouris und Katerina Koveou ihre Organisation Home for one day, die sich durch Spenden finanziert. „Hier kochen Griechinnen und Griechen gemeinsam mit Geflüchteten und Migranten, und jeder der möchte, bekommt etwas zu essen“, erklärt Katsouris und zeigt auf die hohen Stahltöpfe, die auf dem großen Herd vor sich hin kochen. Katerina Koveou ist die Küchenchefin und rührt immer wieder in den verschiedenen Töpfen und häuft Nudeln, Gemüse und Fleischstücke auf die Teller.

Eigentlich sei er Fischer, sagt Nikos Katsouris während er einige der Teller zum langen Holztisch trägt. Bis zum Jahr 2015 hatten er und Koveou eine ganz normale Taverne. „Doch dann kamen die ersten Flüchtlinge mit den Schlauchbooten hier an“, berichtet Katsouris und hält kurz inne. Er habe ihnen Essen gekocht, ihnen trockene Kleidung gegeben. „Die geflüchteten Menschen kamen immer wieder zu uns, teilweise einfach um hier zu sitzen“, lächelt der Mann leise. Sie nannten seine Taverne home – „Und so entstand der Name“, lacht Katsouris und stellt den letzten Teller auf den Tisch.

Dort sitzt bereits die fünfköpfige Familie Mahboubi aus Afghanistan. Die Kinder rücken mit den Stühlen, ein Lächeln huscht über das Gesicht des sechsjährigen Kianoosh. Nikos Katsouris streicht ihm über den Kopf. „Wir versuchen den Menschen hier ein bisschen zurückzugeben, was ihnen genommen wurde: Wärme, Herzlichkeit, einfach mal wieder ausgehen“, sagt Katsouris.

Recherchefonds Ausland e.V.

Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.

Ahmad Jawad Mahboudi lächelt seinen Kindern zu. „Meine Kinder sind so erschöpft von Moria. Dort ist es kalt und schmutzig. Es ist schön hier wenigstens für ein paar Stunden etwas Normalität zu haben“, sagt der 35-Jährige. Der Diplomingenieur arbeitete in seiner Heimat viel mit ausländischen Firmen. „Das gefiel den Taliban nicht“, seufzt der Mann lässt kurz die Gabel auf den Tellerrand sinken. Er schiebt den Ärmel seines Pull­overs etwas nach oben und deutet auf eine Einkerbung im Arm. Das sei eine von drei Schussverletzungen, erklärt er. „Ich hatte Glück im Unglück – aber es war klar, dass wir gehen mussten“, sagt Mahboudi. Seit drei Monaten lebe er in Moria. Er habe mit seiner Familie im offiziellen Camp einen Platz ergattert – dort habe man wenigstens Strom.

„Natürlich gibt es in Moria Probleme wie Gewalt, Kälte und Krankheit aber ich möchte in die Zukunft schauen, deshalb mache mir große Sorgen um die Bildung meiner Kinder“, sagt der Mann. Die wenigen schulischen Zentren des UNHCR und anderer Organisationen richten sich fast ausschließlich an unbegleitete Minderjährige. Insgesamt werden von den etwa 8.000 Kindern in Moria zur Zeit nur knapp 400 unterrichtet. Aber noch ginge es, seine Kinder seien sechs, drei und ein Jahr alt. „Wir haben noch etwas Zeit“, sagt er und lächelt gequält.

Sanitäranlagen im Camp: Eine Toilette für 250 Flüchtline Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Nikos Katsouris und Katerina Koveou statten die Familie noch mit Socken, einem Paar Kinderschuhe und Decken aus. Dann fährt ein weißer Kleinbus vor, der die Familie wieder nach Moria bringt. Nikos Katsouris winkt der Familie zu. „Es ist Wahnsinn, was hier passiert“, er schüttelt immer wieder den Kopf. „Europa lässt uns einfach allein – hier werden Menschenleben zerstört.“

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