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Verfallsdatum abgelaufen!

Der Sozialpsychologe und taz lab Publikumsliebling Harald Welzer über Retropolitik und die Nötigkeit, Zukunftsbilder zu entwickeln

Interview Mareike Barmeyer

taz am Wochenende: Herr Welzer, der Titel des diesjährigen taz labs ist „A Change is Gonna Come“ – der Wandel wird kommen: Jetzt wirklich?

Harald Welzer: Der fundamentale Transformationsprozess ist doch schon viele Jahre im Gange. Wenn wir das auf unsere schöne, tolle, friedliche, demokratische, saturierte Welt beziehen – die ändert sich durch viele verschiedene äußere Veränderungen fundamental. Insofern ist die Formulierung falsch: Der Wandel wird nicht kommen, er ist längst da. Nur leider wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen.

Können wir den Prozess denn nutzen? Und wenn ja, wie?

Wir können und wir müssen verschiedene Aspekte nutzen. Zum Beispiel den umweltpolitischen Impuls, der von Fridays for Future ausgeht. Oder vom Generationenprotest überhaupt. Diesen Protest kann man zur Vitalisierung von Demokratien nutzen. Umgekehrt haben wir aber natürlich unglaublich viele Akteure, die nichts verstehen und als Reaktion auf das, was passiert, umso fester an ihren tradi­tio­nel­len Strategien festhalten. Und das macht die Situation sehr dramatisch.

Was heißt das konkret? Erklären Sie mal.

Wenn man sich den Vorgang in Thüringen anschaut, besonders das Agieren der CDU, dann sieht man – wie im Brennglas – dass die Partei nichts mehr versteht von dem, was im Moment vor sich geht. Die sogenannten Volksparteien haben keinerlei Idee, wie sie damit umgehen sollen. Die Reaktion ist dann immer die gleiche. Wie letztes Jahr bei der SPD: Wenn man mit dem Außen nichts mehr anfangen kann, beschäftigt man sich mit sich selbst. Das ist natürlich ein fantastischer Selbstzerlegungsmechanismus für unsere Form von Gesellschaft. Und dass die das nicht mehr packen, ist nicht zufällig. Das ist ein Anzeichen dafür, dass die Stressfaktoren – die Veränderungsfaktoren – so groß und so vielfältig geworden sind, dass die nichts mehr hinkriegen. Da erscheint dann ein Zombie wie Friedrich Merz einigen als Lichtgestalt.

Und was kann man tun, dass sie noch die Kurve kriegen?

Die kann man einfach abhaken. Die sind 20. Jahrhundert, und deshalb verstehen sie nichts vom 21. Jahrhundert. Die sind „over“. Man könnte auch sagen: Unsere Leichen leben noch. Die SPD hat es vorgemacht: Die sind in Amt und Würden in Funktion. Die gibt es. Aber die haben ihr Verfallsdatum längst überschritten und wesen jetzt im Kühlregal vor sich hin.

Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Herausgeber des Magazins für Zukunft und Politik, taz.FUTURZWEI.

Wie können wir hier in diesem Kühlregal etwas ändern? Wie sehen Sie die Zukunft?

Ich hätte die Hoffnung – und das deutet sich mit den Schülern an – auf eine große Repolitisierungsbewegung. Der Gegenstand kann natürlich tatsächlich nur im weitesten Sinne die ökologische Frage sein. Das heißt: Wie erhält man die Überlebensgrundlagen? Und dann für unsere Gesellschaft das super schwierige Thema: Wie kriege ich das, unter demokratischen und, gesellschaftlich betrachtet, liberalen Bedingungen hin? Das ist die Megafrage. Das ist die Frage des 21. Jahrhunderts.

Was entgegnen Sie den jungen Leuten, die verzweifeln, in Hinblick auf den Klimawandel. Die sagen: „Es ist eh schon alles zu spät?“

In einem meiner Bücher argumentiere ich, dass es schon andere Phasen in der Menschheitsgeschichte gegeben hat, in der Verzweiflung ein nachvollziehbarer Zustand gewesen ist. Aber das Erstaunliche ist doch, dass aus solchen Phasen tiefer Verzweiflung oft etwas außergewöhnlich Gutes entsteht. Zum einen, scheint es nach zwei oder drei Generationen die Möglichkeit zu geben, dass es so etwas wie Lernprozesse gibt. Zum anderen ist es so, dass wir heute auf dem allerhöchsten Stand von Handlungsmöglichkeiten Partizipation, Freiheit und Wohlstand existieren, den es jemals gegeben hat. Es gibt also gigantische Möglichkeiten zum Handeln. Um diese Handlungsmöglichkeiten überhaupt zu sehen, brauchen wir so etwas wie Zukunft und Zukunftsgewissheit. Aber es bietet niemand Zukunftsbilder an. Daher müssen wir an konkreten Utopien und Zukunftsbildern arbeiten.

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