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Im verwilderten Osten

Nach einer Analyse von Jörg Schönbohm (CDU) ist „die von der SED erzwungene Proletarisierung“ der Gesellschaft für die Kindermorde von Brandenburg verantwortlich zu machen – wie praktisch!

von CHRISTIAN SEMLER

Kaum ist ein entsetzliches Verbrechen geschehen, Tatumstände und das Motiv des Täters sind noch ungeklärt, da werden wir mit großflächigen Erklärungen konfrontiert. Was allerdings Brandenburgs Innenminister Schönbohm gestern zu den Kindermorden von Frankfurt (Oder) losgelassen hat, ist mehr als der unzulässige Versuch, eine Mordtat vorschnell aus gesellschaftlichen Konstellationen, hier dem Zerfall christlicher Werte unterm Realsozialismus, zu erklären.

Wenn Schönbohm meint, dass „die von der SED erzwungene Proletarisierung in ländlich strukturierten Räumen eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft gewesen ist“, so haben wir einen Generalangriff auf eine ganze Bevölkerungsgruppe, die der ehemaligen Kollektivbauern der DDR, vor uns. Solche Attacken sind Pionieruntaten. Sie öffnen das Tor, um Menschen, die oftmals durch die Kapitalisierung der DDR-Landwirtschaft nach 1990 hart getroffen sind, in toto als „kriminogenes Umfeld“ zu verleumden.

Hier geht es nicht darum, gegenüber Schönbohm ein umfassenden Bild der DDR-Landwirtschaft samt ihrer Probleme zu zeichnen. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass „Proletarisierung“ in den LPGs geregelte Arbeitszeiten bedeutete, dass den Kollektivbauern ein großes Feld der Qualifizierung eröffnet wurde. Zuerst über die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten.

Auch später, als der große Schub der Mobilität nach oben vorbei war, stand der Weg in technische Berufe offen. Auf dem Land gab es für jeden erreichbare Kulturhäuser oder wenigstens – auf LPG-Ebene – Kulturbeauftragte, die ihre Schutzbefohlenen in Theateraufführungen und in Ausstellungen schleppten. Natürlich waren diese Anstrengungen ideologisch von der Staatspartei geprägt. Wie auch von den Kollektiven ein starker Druck zum Konformismus ausging. Aber es ist unbestreitbar, dass der „Kollektivismus“ in der DDR, voran das Brigadesystem in den Betrieben, aber auch die landwirtschaftlichen Kollektive Zusammenhalt stifteten.

Oft wurden gerade sie zu Kernen der Resistenz gegenüber den Anweisungen übergeordneter Instanzen, zu Schutzschildern. Und nicht selten bildeten sie den Mittelpunkt für die private Lebensgestaltung der Menschen.

Schönbohm macht bei seinem Jaucheguss geschickt von der Tatsache Gebrauch, dass in der Landwirtschaft der DDR oft bedenkenlos mit Tieren wie mit Geräten umgegangen wurde, dass Desinteresse herrschte. Die ungarische oppositionelle Demokrat Andras Hegedüs, selbst ein Bauernsohn, hat diese Verhaltensweisen als ein System „organisierter Verantwortungslosigkeit“ charakterisiert.

Sie war die Folge einer Konzeption, die die Eigentumsverhältnisse in den LPGs nicht ernst nahm, die Gruppeneigentum ideologisch ablehnte und statt dessen von einem abstrakten, nicht fassbaren Volkseigentum ausging, das jedem und damit niemandem gehörte.

Aber aus der Gleichgültigkeit der Bauern an den Produktionsmitteln auf den Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen und allseits geteilter Werte zu schließen, ist bösartig – als ob man aus den Diebstählen von Staatseigentum in DDR-Betrieben und aus den für Einkäufe genutzten Fehlzeiten auf eine kriminelle Veranlagung der Beschäftigten schließen würde. Der „Kollektivismus“ war eben nicht nur ein Produkt der SED, erwurde auch erfolgreich gegen die Staatspartei praktiziert. Er bildete Werte aus – und die waren den christlichen nicht unähnlich.

Schönbohm beleidigt nicht nur, er hat auch Angst. Er fürchtet, was die Bourgeoisie früher die „classes dangereuses“ nannte, die „Unterschichten“ wie es heute heißt. Sie, die Eigentumslosen, will er mit seiner Version von „christlichen Werten“ traktieren. Das wird nicht gelingen.

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