: Das schlechte Gewissen reist mit
Touristen sind immer die anderen, man selbst betrachtet sich als Reisenden. Dabei wissen doch alle: Der Tourismus gehört zu uns, und wir werden ihn auch in Zukunft nicht los
Von Doris Akrap
Unsere beiden Klone standen vor der Kathedrale von Palermo, als wir gerade aus ihr rauskamen. „Da seid ihr ja! Wir haben euch schon vermisst.“ Verkrampftes Scherzen gefolgt von Ihr-so-wir-so-Checkerei und ironischer Verabschiedung mit „Man sieht sich“. Das Berliner Pärchen hatte schon in demselben Flieger gesessen, war in derselben Pension untergekommen und hatte schon zwei Mal vor derselben Sehenswürdigkeit gestanden wie wir. Um das Gefühl loszuwerden, einem vorgegebenen Plan zu folgen, dem Millionen andere auch folgen, mieteten wir ein Auto. Das vermeintlich planlose Cruisen durchs mytho- und filmologisch aufgeladene Sizilien schien der Inbegriff von Freiheit. Auch die nervige Unterkunftssuche jeden Abend gehörte zu dem, wie ich mir Urlaub vorstellte: keinen Plan haben.
Dabei wissen wir alle: alles nur Illusion. Als Touristen sind wir alle Klone. Man hofft nur, dass die anderen von Palermo aus Richtung Osten oder Westen und nicht nach Süden fahren.
Die Suche nach ursprünglicher Natur und echten Einheimischen war schon immer die Romantisierung von Armut und Zivilisationsfeindlichkeit. Knorrige Alte, die die Ziege seit Urgroßvaters Zeiten nach demselben Rezept zubereiten und nur ihren schon im nächsten Dorf nicht mehr verständlichen Dialekt sprechen, sie stehen immer noch hoch im Kurs. Sobald aber einer von ihnen gefunden wird, wird er zur Top-Destination und die Ziege aus Australien importiert.
Einfacher ist das Freiheitsgefühl freilich zu haben, wenn man sich in einer Bettenburg auf Malle die Freiheit nimmt, erst um 18.45 Uhr aufzustehen und Frühstück zu bestellen.
Hans Magnus Enzensberger zeigt in seiner legendären „Theorie des Tourismus“ von 1958, wie der Tourismus sich seit dem 19. Jahrhundert parallel zur industriellen Gesellschaft entwickelte und schon immer die Sehnsucht nach der „Befreiung von der industriellen Welt“ war, die aber scheiterte, weil sie selbige dorthin brachte, wo sie noch gar nicht war. Schon 1903 beschwerten sich adlige Reisende, dass es „vor 40 Jahren noch gemütliche Hotels, aber keine ungemütliche Masse“ gab.
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Die Arbeitsgesetze der Weimarer Republik bildeten die Basis für den einsetzenden Massentourismus. Die durchschnittliche Zahl der bezahlten Urlaubstage steigt auf 8 bis 12 Tage an. Eine zentrale Rolle in der Geschichte des Tourismus spielen die Bergsteiger- und Alpenvereine. 1913 wurden in der Höllentalangerhütte im Wettersteingebirge zum Beispiel 4.000 Übernachtungen registriert, 1923 waren es bereits 28.000.
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In den 1920er Jahren wurden die ersten Buslinien für Pauschalreisen eingerichtet und „Fremdenverkehrsorte“ nutzten neben Zeitungen auch die neuen Medien Radio und Film zu Werbezwecken.
Touristen waren schon immer die anderen. Man selbst betrachtete sich als Reisenden. Gern auch als Andersreisenden. In den Reiseführern der „Anders reisen“-Reihe im Rowohlt-Verlag erfuhr man, was da los ist, wo man ist, und nicht, wo man dort am besten isst. Als Andersreisender musste man aber irgendwann einsehen, dass die gescholtenen Bettenburgen und Pauschalreisen sozial- und klimaneutraler als so manche Individualreise waren.
Das schlechte Gewissen reist immer mit. Und die Frage, wie man die Kollateralschäden des Reisens minimieren kann, wird dabei immer wichtiger. Früher wurde der billige Urlaub im Elend anderer Leute mit der Lektüre politischer Hintergründe wettgemacht. Heute kann man noch im Flugzeug für Aufforstungsprojekte spenden und seinen Individualtrip in Übersee CO2-neutral zusammenstellen lassen.
2009 nahm die Tourismusbranche weltweit 852 Milliarden Dollar ein, knapp 2 Billionen Dollar werden es 2020 sein. Trendforscher sehen die Zukunft des Tourismus in „multimodalen“ und „intermodalen“ Mobiliätskonzepten“: immer individualisierter, differenzierter und klimafreundlicher gestaltete Urlaubsangebote, die vor allem den Autoverzicht erleichtern sollen, indem verschiedene Verkehrsmittel kombiniert werden.
Das passt zur Entwicklung, Urlaub im eigenen Land zu machen, und auch zur Zunahme von Kurztrips. Städtereisen führen schon jetzt zum urbanen Kollaps. Venedig und Dubrovnik sind nur die krassesten Beispiele für das, was mehr oder weniger allen Städten droht, die sich als „Destination“ vermarkten. Und das machen die meisten. Der italienische Soziologe Marco d’Eramo nennt den Tourismus deshalb die „Schwerindustrie des 21. Jahrhunderts“.
Um Tourismus verträglicher zu gestalten, auch ökologisch, haben die Städte bisher wenig entwickelt. Ob der im Hamburger Tourismuskonzept empfohlene Besuch von Cafés mit Biotee und Läden mit Flipflops aus Kautschuk mehr ist als die Beruhigung des schlechten Gewissens, lässt sich schwer sagen.
Ein weiterer skurriler Trend: Orte, die bisher Drehkreuze und Schleusen waren, werden selbst zu Destinationen: Der Amsterdamer Flughafen Schiphol hat die erste Flughafenbibliothek eröffnet, und Singapurs kürzlich eröffneter Flughafen Changi ist ein futuristischer Vergnügungspark mit angeschlossener Landebahn. Die Flughäfen sollen nicht mehr nur Weg zum Ziel sein, sondern selbst Urlaubsziel.
Enzensberger schrieb in seinem Essay, der Tourismus sei „eine Sache, von der wir kaum wissen, ob wir sie zu der unsern oder ob sie uns zu den Ihrigen gemacht hat“. So wird es auch in Zukunft sein. Den Tourismus werden wir nicht los. Er gehört zu uns. Der Tourismus wurde nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, ihn zu verändern.
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