: Im Jahrhundert der Greise
RÜCKBLICK Mit Mut zum Barocken, aber ohne Epos: Marjana Gaponenko erzählt von den letzten Tagen eines 96-Jährigen in prachtvoller Kulisse
VON SOPHIE JUNG
Sie waren einmal ein schöner Mann“, sagt Lewadski, „und jetzt, wo Sie lächeln, sehe ich, dass Sie Dill zwischen den Zähnen haben.“ Mit diesen Worten beginnt die Begegnung zwischen zwei alten Herren im noblen Hotel Imperial in Wien. Warum Herr Witzturn hier logiert, weiß man nicht, aber Lewadski, ein hochbetagter Ukrainer ist aus seiner Heimat nach Wien zurückgekehrt, um in der Stadt seiner Mutter die letzten Tage seines 96-jähriges Leben zu verbringen.
Lewadski ist Ornithologie. Sein Beitrag zur Wissenschaft ist die bahnbrechende Studie über die Rechenschwäche der Rabenvögel. Das einsame Leben teilt er mit den Vögeln. Waldrappen, Habichte, Dreizehenfischer, jeder Einzelne der Luftbewohner gibt ihm eine Erklärung für das irdische Dasein. Von dem Kosmos der Vögel weiß Lewadski zuweilen seine eigenen Rückschlüsse auf die Welt der Menschen zu ziehen. „Die EU“, sagt er zu einem Taxifahrer, „ist ein Segen, Zugvögel, zum Beispiel, waren schon immer echte Europäer.“ Aber warum man das Wort „Neger“ nicht mehr in den Mund nehmen dürfe, verstehe er nicht, „Unfug, dann müssen die Negerfinken in farbige Finken umbenannt werden, diese Prachtvögel.“
Geistreich, ironisch und ohne Scham berichtet Marjana Gaponenko in ihrem Roman „Wer ist Martha?“ von dem Ableben eines eigenbrötlerischen Greises vor einer Wiener Kulisse in Prunk und Luxus.
Marjana Gaponenko wurde 1981 in Odessa geboren. Heute lebt sie in Mainz. „Wer ist Martha?“ ist ihr zweiter Roman. Darin erweckt die Germanistin mit Witz und in einer klaren Sprache das Kleine und vermeintlich Unwichtige. Wenn eine „Augenbraue als magere Raupe auf sein Schädelplateau kriecht“ und der „Wind mit wahnsinniger Freude eilt“, dann lässt sie Tier und Ding ein selbstständiges Leben führen. Ohne Pathos windet sie diese Betrachtungen um ihre Geschichten und gibt ihnen eine eigene Aussage. Behandelte sie in ihrem ersten Roman „Anuschka“ noch den Briefwechsel zwischen einem Liebespaar, so entschied sie sich in ihrem neuen Roman für äußerst reifen Stoff.
In „Wer ist Martha?“ macht sich die junge Autorin auf, die Gedankenwelt eines vernarrten Vogelforschers aufzuspüren und mit ihm das vergangene Jahrhundert zu kommentieren. Das tut sie mit viel Ironie. Gaponenko spannt erzählerische Parallelen zwischen dem eigensinnigen Erleben des Lewadski und der Welthistorie, zwischen einem Amselflügelschlag und dem Tod des Zaren, zwischen Rabenvögeln und dem Einmarsch der Nazis in Polen. Ihre Beschreibungen des greisen Mannes, seiner kraftlosen Glieder, seines hängenden Fleisches und der furchtbaren Unannehmlichkeit seiner Druckknopfprothese im Mund spitzt die Autorin zu einem lustvollen Sarkasmus zu. Doch weiß sie zugleich in den wachgeistigen Reflexionen ihrer Figur dem Lewadski einen charmante Würde zu verleihen, wenn er „zahnlos die Frucht verschlingt. Biss um Biss, sofern man es so nennen kann.“ Und sich in ihm „für den Bruchteil einer Sekunde die Ahnung regt, was Perversion ist“.
Tiefe Falten, ölige Glatzen
Die Beobachtung seines welken Körpers wird der Galizier nicht bei sich selbst belassen. Jede tiefe Falte und ölige Glatze unter den Figuren der Wiener Gesellschaft unterzieht er einer strengen Begutachtung. Herr Witzturn, dessen Durckknopfproblem weniger bei den dritten Zähnen als bei seiner Nasenprothese liegt, erweist sich dafür als hervorragende Begleitung.
Ein gemeinsamer Konzertbesuch bei den Wiener Symphonikern erweckt Erinnerungen aus der Kindheit, aus der „Zeit zwischen zwei vergangenen Utopien: Österreich-Ungarn und der Sowjetunion“. Und fast machen sich die beiden Herren in ihrer angejahrten Zickigkeit den Abend zunichte, würden sie nicht mit Humor und Lust ihren kurz werdenden Lebensfaden ausschöpfen wollen. An der Hotelbar geben sie noch einmal ihr Bestes. Sie kosten von allen alkoholischen Moden der letzten Jahrzehnte. Mit Merry Widow No. 1, Piña Colada und Kosmonautencocktails versinkt die Nacht in ein traumhaftes Delirium, und die Schilderung der Gaponenko mündet in ein bewundernswertes Flechtwerk aus Metapher und Narration.
„Wer ist Martha?“ ist ein Genussroman. Marjana Gaponenko hat eine freie Erzählung ohne viel Handlung geschrieben, mit Mut zum Barocken, aber ohne Epos. Das große Urteil bleibt aus. Fast schon erschreckend reif und technisch geschickt ist die Prosa dieser jungen Autorin. Selbst im Titel erlaubt sie sich einen literarischen Kniff. Das Geheimnis um Martha lüftet sie nicht.
■ Marjana Gaponenko: „Wer ist Martha?“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2012, 237 Seiten, 19,95 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen