: Lügen, ohne rot zu werden
In „Stunde der Hochstapler – Das Krull-Prinzip“ erkundet Regisseur Alexander Eisenach im Berliner Ensemble das Wesen der Hochstapelei. Lügen konnten schon die Menschenaffen, perfektioniert haben es aber Konzerne, eine Elite-Uni und die Geheimdienste
Von Helmut Höge
Mit dem Wirken der Treuhandmanager in Ostdeutschland tauchten in den Betrieben und Behörden Sticker auf mit dem Satz „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Beim Wessi ist es andersrum.“
Ausgehend von seiner assoziativen Erkundung der Hochstaplerfigur „Felix Krull“ zur Saisoneröffnung im Großen Haus des (Ost-)Berliner Ensembles fragt der Regisseur und Autor Alexander Eisenach nun im (mit Westgeld errichteten) Neuen Haus des BE weiter nach dem uns alle betreffenden Prinzip Krull: „Wann hat das angefangen, dass wir lügen? Ist die Erfindung der Lüge jener Moment, in dem sich das menschliche Bewusstsein manifestiert? Ist es der Moment, in dem wir beginnen, aufrecht zu gehen? Uns unsere Umwelt zunutze zu machen und einen ungeheuren Zivilisationsprozess in Gang setzen?“
Man kann das bejahen – folgt man dem Philosophen Mark Rowlands, der sich mit dem Primatenforscher Volker Sommer einig ist: „Erst die Menschenaffen und die Menschen haben die Fähigkeit zu lügen.“ Der Regisseur fragt aber nicht, was interessant gewesen wäre, nach konkreten Fällen, etwa nach den Hintergründen betrügerischer Wessis, sondern geht ins Grundsätzliche. Da sein anthropologisches Projekt von der „Heinz und Heide Dürr Stiftung“ gesponsert wird, muss man nur noch einmal an die große „Einkaufstour“ des AEG-Chefs Heinz Dürr und des Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter in den USA erinnern, nachdem der Elektrokonzern sich 1985 mit Daimler-Benz alliiert und dadurch gerettet hatte. Aber der damit konstruierte neue „Technologiekonzern“ scheiterte und die AEG wurde zerschlagen.
Die Hochstapelei der beiden „Topmanager“ bestand darin, dass sie auf die Schnelle einen „Weltkonzern“ zusammenschustern wollten. Bei Daimler-Benz versuchte man es einige Jahre später noch einmal – quasi von unten, indem die Firmenleitung ihre bieder-schwäbischen Autobauer in einen buchstäblichen „Crashkurs“ zum Englischlernen nach Harvard schickte.
Diese Universität ist die Nummer 1 unter den Hochstapleruniversitäten weltweit: Harvard ist für die Kultur ungefähr das, was Fukushima für die Natur ist: eine schwere Belastung. Das hängt mit dem Ranking der US-Universitäten zusammen, das die Höhe der Studiengebühren bestimmt. Nicht erst seit den Kennedys gibt es wahrscheinlich keine erfolgreichen Mafiosi, Gangster, Waffenhändler, Rauschgifthändler und korrupten Politiker mehr weltweit, die ihre Söhne und Töchter nicht nach Harvard schicken – um sie zu veredeln, zu waschen quasi. Für diese sauberen Sprösslinge gibt es dort dann nur noch ein Verbrechen: das Kooperieren. Die „Competition“ wird in Harvard derart großgeschrieben, dass die Studenten nicht einmal untereinander andeuten mögen, welche These sie gerade ausarbeiten. Vielleicht ist es diese Verschwiegenheitspflicht, die Harvard für die CIA zum Hauptrekrutierungsfeld macht. Dazu müssen die Absolventen auch noch die für Hochstapler und „Agenten“ wichtige Fähigkeit eines Lebens mit falscher Identität lernen, also lückenlos lügen können, ohne rot zu werden.
Die mit einem Kennedy (!) verheiratete CIA-Agentin Amaryllis Fox schreibt in ihrem Bericht „Life Undercover“ (2019), dass sie für ihre „Missionen“ mehrere Identitäten annehmen musste. Als sie hinter koffergroßen kommunistischen Atombomben für islamische Terroristen her war, ließ sie sich in Bagdad als australische Kunsthändlerin mit starkem Interesse an junger orientalischer Kunst nieder. Einzig in ihrer Beziehung zu einem CIA-Kollegen, von dem sie ein Kind bekam, erlebte sie eine „pragmatische Ehrlichkeit inmitten eines Strudels aus Fiktionen“. Allerdings wird ihr mit der Zeit die neue Identität vertraut: „Eine Lüge zu leben tut nur so lange weh, wie ich mich daran erinnere, dass es eine Lüge ist.“
Am Ende ihres Berichts, nachdem sie bei der CIA gekündigt hatte, schreibt Amaryllis Fox: „Ich habe fast ein Jahrzehnt lang nur Masken getragen. Mein wahres Gesicht fühlt sich unvollständig und nackt an. Wie die feuchte, weiße Haut, die unter einem Pflaster zum Vorschein kommt.“
Im Gegensatz zu den Geheimdienstlern, die in unterschiedlichen „Missionen“ eingesetzt werden, bleibt ein Hochstapler meist bei einer Identität, bei einer Lüge, die er dann verfeinert, ausbaut. Peter Müller und Wolfgang Sabath berichteten 1998 in „Peanuts aus Halle“ über eine Sparkassenfiliale, deren altgediente Sachbearbeiterin Kredite in Höhe von 700 Millionen D-Mark an eine ganze Gruppe westdeutscher Betrüger vergeben hatte. Diese hatten sich in der aufgelösten LPG-Verwaltungsbaracke von Teuschenthal einquartiert und mit Schwindelfirmen und Bauprojekten Arbeitsplätze im vierstelligen Bereich versprochen.
Ihre Dominanz des Scheins über das Sein wurde dann auch den Ostlern nahegelegt, wie die Film-Analysen des nach der Wende boomenden Fortbildungs- und Umschulungssektors von Harun Farocki zeigen. In den vor allem im Osten entstandenen Bildungszentren wird den Arbeitslosen beigebracht, wie man sich richtig bewirbt, das heißt besser verkauft. Es sind videogestützte Auftrittsschulungen, in denen das wirkliche (also westliche) Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Farocki „vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist“.
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